Als Kind stellte ich mir vor, schwerelos zu sein und mit den Tieren zu sprechen. Meine Phantasie war beinahe grenzenlos. Darum kannte ich auch das Reich der Schatten. Mit der Dämmerung wichen meine Tagträume dem Dunkel der Nacht. Ich war ein Kind, das nur bei offener Tür und Licht im Flur in den Schlaf fand. Vor dem Zubettgehen schaute ich nochmals unter dem Bettrost nach, ob da wirklich nichts lauerte, und betete zu Jesus, er möge über mich wachen.
Am meisten am Schlaf hinderten mich gerade jene Wesen, die sich meiner Wahrnehmung entzogen: Ich fürchtete mich vor Geistern und den Seelen Verstorbener, die sich durch Wände bewegten und mit dem Verrücken von Gegenständen bemerkbar machten.
Irgendwo zwischen Kindheit und Jugend brachte ich die Vernunft gegen die Geister in Anschlag. Ich hörte auf, an sie zu glauben. Später wurde ich Religionswissenschaftlerin. Auch meine eigenen religiösen Vorstellungen begann ich nach und nach zu entzaubern. Für die Geister meiner Kindheit hatte ich bald nur noch ein Lächeln übrig. Den Geistercheck vor dem Schlafengehen tat ich als Abwehrritual ab. Nichts mehr als das kindliche Überbleibsel eines magischen Denkens, das die aufgeklärte Welt längst hinter sich gelassen hat.
Ich schüttelte den Kopf über Menschen, die von sich behaupteten, mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen zu können. Da hielt ich es mit Adorno, der den Spiritismus seiner Zeit als «Metaphysik der dummen Kerle» bezeichnete, nichts weiter als das Unvermögen, mit der nüchternen Realität zurande zu kommen: dass das Leben endlich ist.
Doch die Ironie, mit der ich der Vorstellung von Geistern und dem Kontakt zu ihnen begegne, ist ein ziemlich dünner Firnis. Auch wenn es seltsam klingen mag: Ich glaube längst nicht mehr an das Weiterleben von Verstorbenen – aber in meine Belustigung mischt sich noch immer ein Quentchen Furcht. Horrorfilme schaue ich kaum, denn Zombies, Vampire und Poltergeister rauben mir auch heute noch den Schlaf. Ich will herausfinden, warum das so ist. Warum mich Geister bis heute beunruhigen. Und ich will wissen, warum andere Menschen den Kontakt zu Verstorbenen suchen.
Die Ironie, mit der ich der Vorstellung von Geistern und dem Kontakt zu ihnen begegne, ist ein ziemlich dünner Firnis. In meine Belustigung mischt sich ein Quentchen Furcht.
Im Herbst 2017 verabrede ich mich deshalb mit Hans Frieden. Mit jeder Menge Fragen und nicht weniger Vorurteilen sitze ich im Café in der Berner Altstadt, in dem wir uns verabredet haben. Gleich werde ich einen Hellseher treffen, einen Menschen mit auffälliger Frisur und heftigen Gesten, mehr Figur als Person, stelle ich mir vor. Vielleicht habe ich Hans deshalb nicht kommen sehen, als er an meinen Tisch tritt. Er ist leger gekleidet und wirkt aufgeräumt. Seine Augen ruhen tief hinter den Rändern seiner Brille, die er beim Sprechen bald ablegt.
Ich frage Hans, ob er Verstorbenen wirklich schon begegnet sei. Ob es wirklich wahr sei, dass man sie sehen könne. Und Hans sagt Ja. Er beschreibt, dass er die Präsenz von Verstorbenen und ihre Energien aus dem Jenseits wahrnehmen könne. Meist seien das vage Visionen, mehr Eindrücke als fotografische Bilder, Details eines Menschen: die Art, wie jemand sich bewegte, ein Gesichtsausdruck, eine Stimmung. Wenn er sich einstimme und seinen «Kanal» öffne, dann bekomme er Einblicke in diese jenseitige Welt. Zum Spass mache er das aber nicht, sagt Hans. «Das ist Arbeit.»
«Folge deiner Intuition!»
Hans bietet seine Dienste seit rund zwei Jahren an. Er sieht sich als Übersetzer zwischen den Welten und sucht Kontakt mit dem Jenseits, wenn ihn Menschen darum bitten. Beispielsweise in der Hoffnung, ein letztes Mal mit einem Verstorbenen zu sprechen. Nicht immer, aber manchmal hätten die Verstorbenen, die sich ihm dann zeigten, eine Botschaft für die Menschen, sagt Hans.
Was für Botschaften das seien, will ich wissen. Das könne eine Aufforderung sein, den Tod eines nahen Menschen zu akzeptieren, antwortet er. «Sie kommen, um zu sagen: Es geht mir gut in dieser anderen Welt.» Oder es könne auch ein Ratschlag sein: «Folge deiner Intuition!»
In meiner Vorstellung sind Tote einfach: tot. Lebenden Toten bin ich nie begegnet. Deshalb bitte ich Hans, mir zu beschreiben, wie das geht, sich auf die Verstorbenen und das Jenseits einzulassen. Es habe viel mit Intuition zu tun. Und Offenheit. «Du musst bereit sein, für das, was kommt.» Er bewegt seine Hände, als würde er einen unsichtbaren Vorhang vor sich öffnen.
Ich frage Hans, ob er dazu in Trance geraten müsse oder ob er spezielle Gerätschaften brauche, um die Geister zu rufen und sie zu verstehen. Er sagt Nein. Er brauche dazu nichts. Nur sich selber – und Vertrauen in das, was er tue. Die Nüchternheit, mit der Hans über den Spiritismus spricht, enttäuscht mich fast ein wenig. Ich habe mir mehr Abenteuer erhofft. Mehr von der Dekadenz des Fin de Siècle und seiner makabren Freude am Grusel, denn der mediale Geisterkontakt ist ein Kind der Moderne, ein Hybrid, von Romantik und Forscherdrang gezeugt.
Tipps in Liebesdingen
Auch wenn Geisterbegegnungen wohl so alt sind wie die Menschheit selber, so schlug die Stunde der Toten erst spät. 1848 war das Jahr, in dem Marx und Engels das Kommunistische Manifest verfassten und die Schweiz gegründet wurde. Es war aber auch das Jahr, als zwei Teenager-Schwestern in der Nähe von New York durch Klopfgeräusche folgende Botschaft aus dem Jenseits empfingen: «Wir Toten leben und können wieder mit euch in Verbindung treten.» In der Folge tingelten die Fox-Geschwister mit ihrer Geistershow durch die Theatersäle der USA. Dabei befragten sie die Verstorbenen auch zu Bahnaktien oder baten sie um Tipps in Liebesdingen. Sie wurden weltberühmt – und bald schon begannen sich die Geister überall zu melden.
An der Schwelle zum 20. Jahrhundert eroberte der Geisterglaube die Salons der Gelehrten, Intellektuellen und Schriftsteller. Begeistert waren aber auch Teile der Arbeiterschaft im viktorianischen England, und bald schon schwappte der neue Glaube auf das europäische Festland über.

Hans Frieden stimmt sich ein. Wenn sein «Kanal» offen ist, erhält er Eindrücke aus der jeneitigen Welt: einen Gesichtsausdruck, eine Stimmung, die Art, wie jemand ging.
Der okkultistische deutsche Freiherr Carl du Prel war überzeugt, dass es das Ziel des Spiritismus sei, «auf experimentellem Weg jenen Unsterblichkeitsglauben wiederherzustellen», der durch den schwindenden Glauben an das Neue Testament verloren gegangen war.
Die neu entstehende Parawissenschaft entwickelte dazu skurril anmutende Apparaturen und Gerätschaften, um die Botschaften aus dem Jenseits zu empfangen: Buchstabenbretter fürs Gläserrücken und an Morsegeräte erinnernde Apparaturen, die Klopfgeräusche in Buchstaben verwandelten. Sogenannte Psychographen, dreibeinige Tische mit zwei Beinen auf Rollen, fuhren über die Böden der Salons, ein drittes Bein endete in einem Bleistift und hielt damit die Worte der unsichtbaren Gäste auf einer papiernen Unterlage fest.

In den Räumlichkeiten der Fachhochschule für Medialität finden regelmässig Jeneseitskontakte statt.
Von all diesen spektakulären Dingen erzählt Hans nichts. Aus dem flamboyanten Spiritismus des 19. Jahrhunderts scheint eine aufgeräumte Angelegenheit geworden zu sein. Hans spricht von «Klienten», für die er Jenseitskontakte durchführt, oder von «Sitzungen», in denen er Heilungen anbietet. Er betont, keine übernatürlichen Fähigkeiten zu besitzen. Jenseitskontakte herzustellen sei lernbar – jeder und jede könne Medium werden. Auch wenn dies Jahre dauere. Hans ist seit sieben Jahren in Ausbildung. Er spricht über den Spiritismus wie ein Therapeut oder ein Seelsorger – nur mit dem Unterschied, dass er es zur Hälfte mit einer unsichtbaren Klientel zu tun hat.
Hans schildert, wie ihn eine Frau neulich bat, sie in ein Ferienhaus zu begleiten. Ihre Kinder fühlten sich dort unwohl und weinten ständig. Dass da im früheren Bauernhaus eine geistige Präsenz sei, das habe er sofort gespürt, sagt Hans. Der Mann sass am Tisch in der Stube. Ein Knecht. Er habe das an seinen einfachen Kleidern erkennen können. Bescheiden und arbeitsam sei der Mann gewesen – er wartete in der Stube noch immer darauf, zur Arbeit zu gehen.
Hans erfasste die Situation in wenigen Augenblicken. «Geh ins Licht», habe er zu dem Knecht gesagt, «es ist für dich.» Der Mann sei zögerlich aufgestanden und in die lichtere Welt gegangen.
Hans erfasste die Situation in wenigen Augenblicken. Es war mehr ein Gefühl als ein Bild. «Geh ins Licht», habe er zu ihm gesagt, «es ist für dich.» Wie er dies tat, will ich wissen. «Ich habe es nicht laut ausgesprochen, nur innerlich. Freundlich, aber bestimmt.» Der Mann sei dann zögerlich vom Tisch aufgestanden und in die lichtere Welt gegangen. «Dann war er weg.» Alles ging so rasch, dass die Frau, die hinter ihm auf der Schwelle in die Stube stand, nichts mitbekommen habe, sagt Hans. Die Kinder hätten danach nicht mehr geweint.
Oft handle es sich bei den Verstorbenen, die sich an belebten Orten aufhalten und das Leben der Menschen störten, um solche, die nicht wüssten, dass sie verstorben seien, sagt Hans. «Sie sind verwirrt, hängen zwischen den Welten.» Dann zeichnet er mit der Hand eine horizontale Linie in die Luft. Er sei sich ziemlich sicher, dass das Leben nach dem physischen Tod einfach weitergehe.
Hans erzählt an diesem Morgen Dinge, die mir fremd sind. Meine normale Reaktion wäre ein Augenverdrehen, doch gelingt es mir, die Ironie, mit der ich Unglaubliches sonst abwehre, stecken zu lassen. Das liegt auch an Hans. Seine Ruhe gefällt mir. Ich habe mit einem vereinnahmenden Menschen gerechnet, dessen Auftreten zum muffigen Patschuliduft eines Esoterikshops gepasst hätte. Hans ist das Gegenteil. Und er hat etwas, womit ich nicht rechnete: Humor – und somit die Fähigkeit, sich selber in Frage zu stellen.
Hans arbeitet als Pfleger in der Psychiatrie. Dort hat er es täglich mit Menschen zu tun, die Stimmen im Kopf hören und unsichtbare Dinge sehen. Und er, sagt Hans, gebe ihnen Medikamente, damit sie diese Wahrnehmungen nicht mehr hätten, während er selber eine Ausbildung mache, um sich für «aussersinnliche Stimmen und Dinge» zu öffnen. Er hebt die Augenbrauen.
Ich frage, wie das zusammengehe. «Gar nicht», antwortet Hans. Es seien zwei komplett andere Ansätze. Niemals würde er die Schulmedizin ablehnen, er arbeite ja täglich mit ihr. Ein Mensch, der an Schizophrenie leide, brauche manchmal Medikamente. Eine psychische Erkrankung ausschliesslich mit Geistiger Heilung beeinflussen zu wollen würde ihm nie in den Sinn kommen.
«Stahlhartes Gehäuse» des Diesseits
Der Konflikt zwischen dem Geisterglauben und einer rein materialistischen Sicht auf die Welt ruft seit den Anfängen des Spiritismus Kritiker auf den Plan. Bereits um die Jahrhundertwende schrien viele «Humbug» und «Scharlatanerie», und auch die Medizin war skeptisch. Während der deutsche Arzt Albert von Schrenck-Notzing zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Hypnose experimentierte und den Kontakt zu Geistern für möglich hielt, lehnte die klinische Psychiatrie den Spiritismus als kollektive Hysterie ab.
Der Basler Psychiater Ludwig Wille bezeichnete die Geistermanie als «Aberglauben», einen Rückfall in die alten Zeiten der Magie, und unterteilte Medien in «psychisch Labile», die selber an ihre Visionen glaubten – und in Betrüger, die ihr Publikum bewusst hinters Licht führten. Der Soziologe Max Weber wiederum sah im Esoterikboom seiner Zeit, dem auch viele Intellektuelle verfielen, die Zeichen einer kulturellen Krise – eine trotzige Verweigerung, sich mit dem «stahlharten Gehäuse» der Diesseitigkeit abzufinden.
Aller Kritik zum Trotz überlebten die Geister im «Untergrund der Moderne», wie der Okkultismus-Historiker James Webb es einst nannte. Bis heute. Und bis heute ähneln sich auch die Argumente der Skeptiker.
Ich frage Hans: «Was unterscheidet die Dinge, die du wahrnimmst, von den Dingen, die deine Patienten wahrnehmen?» Darauf habe er keine Antwort. Und sowieso: absolute Sicherheit, dass das Jenseits wirklich existiere und seine Kontakte real seien, gebe es letztlich nicht, sagt Hans. Sein Pragmatismus überrascht mich. Sein Geisterglaube hat eine Eigenschaft, die mir gefällt: Er ist ziemlich frei von Wahrheitsansprüchen.
Bevor wir uns nach dieser ersten Begegnung verabschieden, stelle ich mit aufgesetzter Beiläufigkeit noch eine Frage: Ob er eine verstorbene Person bei mir sehen oder spüren könne? Geht es nach mir, gibt es auf diese Frage nur eine Antwort. Hans gibt mir eine andere. Er blickt an mir vorbei und scheint den Raum hinter mir zu vermessen. Dann sagt er: «Ich nehme einen Mann wahr, eher gedrungen gebaut, er trägt Schnauz. 44 Jahre. Sagt dir das was?»
Die Zahl 44 und ein Schnauz
Mein Herz geht schneller. Gedrungen, Schnauz. Mein Vater! Er starb mit siebzig Jahren. Aber 44? Ich schüttle den Kopf: «Das sagt mir nichts.» Hans sagt, es habe so viele Menschen im Café, vielleicht sei der Besuch auch für jemand anderen gewesen.
Am Abend vor dem Zubettgehen halte ich die Eindrücke der Begegnung fest: «Hans hat mich überrascht. Er ist sehr pragmatisch. Er sagt, der Kontakt zum Jenseits sei etwas, das ihm gut tue. Angst vor Verstorbenen verspüre er nie. Höchstens vor sich selber. Ein gutes Medium zu sein bedeute vor allem, das richtige Mass zu finden und sich abzugrenzen gegen das, was aus der geistigen Welt komme.»
Ich lösche das Licht. Im Halbschlaf schrecke ich auf. 44! Der Jahrgang meines Vaters. Ich bin hellwach. Was, wenn Hans tatsächlich etwas gesehen hat? Ich rede umgehend auf mich ein, dass es weltweit Millionen stämmiger Schnauzträger gibt, die bereits verstorben sind. Am nächsten Tag bemühe ich die Statistik: Alleine in der Schweiz erblickten 1944 exakt 43 995 Buben das Licht der Welt.
Angenommen, jeder zweite davon trug irgendwann im Leben einmal einen Schnauz und jeder vierte war eher klein und stämmig und so wie mein Vater bereits tot, ja selbst dann bleiben Tausende übrig. Meine Indizien lassen nur einen Schluss zu: Es war meine Phantasie, die eine Zahl (44) und zwei Merkmale (gedrungener Körper und Schnauzträger) zu einem Bild vervollständigte, das meinen Vater zeigte. Es war ein guter Versuch von Hans, mehr nicht. Ein leises Unbehagen und ein kleiner Zweifel bleiben trotzdem zurück.
An einem Frühjahrsabend 2018 begebe ich mich zu der Adresse in der Altstadt von Bern in die Schule, in der Hans seine Ausbildung absolviert. Er und eine Reihe von anderen Medien sollen heute abend Jenseitskontakte herstellen. Eine Art Schau der besten Schüler, bei der Besucher willkommen sind. Über eine schmale Holztreppe gelange ich in die Fachschule für Medialität. Ich finde mich in einem Raum wieder, in dem Reihen von Stühlen auf das Publikum warten. Vor der Fensterfront ist ein Halbkreis angeordnet, davor steht eine Vase mit Tulpen. Der Raum füllt sich mit Frauen und Männern. Nur Kinder und ganz Alte fehlen. Die Umgebung wirkt kein bisschen mysteriös. Hier könnte auch gleich die Diplomfeier eines Dentalhygiene-Studiengangs stattfinden.
Hogwarts für Medien
Gegründet wurde die Fachschule für Medialität vor 16 Jahren. In den Kursen und Lehrgängen lernen die Schüler, ihre aussersinnliche Wahrnehmung und Intuition zu gebrauchen: Hellsichtigkeit zu entwickeln, mit der Hilfe von Geistern zu heilen, Jenseitskontakte herzustellen. Marianne Haldimann, die Gründerin der Schule, nennt ihr Ausbildungsangebot «angewandte Spiritualität». Sie sagt, dass es sie treffe, wenn die Arbeit von Medien herabgesetzt oder in die anrüchige Ecke gestellt werde: «Es gibt viele Vorurteile und noch mehr Unwissen.» Medialität sei keine Frage des Glaubens, sondern es gehe um konkrete Erfahrungen.
Haldimann begann Mitte der 1990er Jahre ihre Ausbildung zum Medium am Arthur Findlay College. Das College wurde 1853 von der National Spiritualists Union in England gegründet; Mitte des 19. Jahrhunderts zählte die Vereinigung Zehntausende Mitglieder. Bis heute ist sie auf der Insel als Kirche mit einer eigenen Philosophie und gottesdienstähnlichen Veranstaltungen mit Ministern anerkannt. Das weltweit bekannte Ausbildungszentrum der Union für Spiritualismus und Parawissenschaften unweit von London residiert in einem viktorianischen Anwesen und erinnert ein bisschen an die Hogwarts-Schule von Harry Potter. Unterrichtet wird in sechs Sprachen; die meisten Kurse werden in Englisch und Deutsch gehalten.
Obschon verlässliche Zahlen fehlen, deutet vieles darauf hin, dass die Schweiz ein geisterfreundliches Land ist. Alleine im Raum Bern finden sich im Internet auf Anhieb ein halbes Dutzend Adressen, welche Geistiges Heilen im Angebot haben. Das Arthur Findlay College bietet eigene «Swiss Weeks» an, die auch von den Studierenden von Haldimanns Schule besucht werden. Ein prominenter Abgänger des College ist auch Pascal Voggenhuber. Der Popstar unter den Schweizer Medien füllt mit seinen Vorträgen Gemeindesäle und Konzerthallen, er bietet «spirituelle Kreuzfahrten» auf dem Mittelmeer an und schreibt Bücher, die bereits kurze Zeit nach Erscheinen Bestseller sind. Auch im öffentlichrechtlichen Fernsehen ist er zu sehen, und gemäss Voggenhubers Angaben hat selbst die Kriminalpolizei schon seine Hilfe in Anspruch genommen. All dies sagt mehr aus über Voggenhubers kaufmännisches Geschick als über ein generell lohnendes Geschäft mit Geisterkontakten. Marianne Haldimann beteuert, dass ihre Fachschule für Medialität kaum Gewinn erwirtschafte. Die Kurskosten würden gerade die Mietkosten, das Sekretariat und die Honorare für Dozenten decken, sagt sie.
«Kannst du ihn nehmen?»
Mittlerweile haben fünf Personen auf den Stühlen im Halbkreis Platz genommen. Ein Medium steht auf und erläutert den Ablauf des Abends. Gleich werden Medien Informationen von Verstorbenen an die Anwesenden übermitteln. Erkennt darin jemand «zu siebzig oder achtzig Prozent» eine verstorbene Person, gilt es sich zu melden. Dann wird das Medium weitere Details erfragen und immer genauer bestimmen oder ausschliessen, ob es sich um die Person handelt. Die Anweisungen erinnern mich an das Spiel «Ich sehe etwas, was du nicht siehst». Nur ist das Gesuchte ein verstorbener Mensch. Ich bin etwas aufgeregt.
Medium 1, eine Walliserin, erhebt sich vom Stuhl. Etwa sechzig Jahre alt, zierlich, das Gesicht schmal und hübsch, trägt Foulard. Sie atmet tief ein, atmet tief aus, senkt den Kopf und hält die feinen Hände wie im Gebet gefaltet vor das Gesicht.
«Ich sehe einen älteren Mann. Siebzig Jahre.»
Mein Herz springt. Mein Vater?
«Sein Tod war ganz sanft … ich sehe das, er ist entspannt und lächelt irgendwie.» Sie atmet ein, sie atmet aus. «Er war drahtig.»
Nicht mein Vater, ausgeschlossen.
«Er war ein warmer Mann.» Sie atmet ein, schliesst die Augen. «Er half der Frau im Haushalt.» Sie nickt und beugt sich leicht vor. «Ich sehe, er flickt ihr die Sachen.»
Frau 1 aus dem Publikum fragt nach: «Hat er eine Brille getragen?»
Medium 1 schüttelt leicht den Kopf: «Nein.»
Frau 2, sie sitzt gleich hinter mir: «Ich glaube, ich kenne ihn.»
Marianne Haldimann richtet sich an Medium 1: «Halt. Gib mehr Details.»
Medium 1: «Ich sehe Werkzeuge.»
Frau 2: «Ja.»
Medium 1: «Ich sehe ihn den Tisch abräumen.»
Frau 2: «Ja.»
Medium 1 tritt etwas nach vorne: «Kannst du ihn nehmen?»
Frau 2: «Ja. Ich denke, ich kann ihn nehmen.»
Die Formulierung, einen Verstorbenen «zu nehmen», amüsiert mich. «Sie alle scheinen einen nehmen zu wollen», notiere ich im Verlauf des Abends. Ich staune über das offenkundige Interesse der Anwesenden, sich so bereitwillig mit einem verstorbenen Menschen zu konfrontieren.
Medium 1 atmet tief ein: «Gut, dann kommt jetzt die Botschaft des Verstorbenen an dich.»
Stille im Raum.
Der Blick von Medium 1 geht ins Leere: «Steh zu dir! Sei du selbst! Mach etwas für dich!» Ich drehe mich um. Frau 2 nickt und presst die Lippen zusammen, die Sitznachbarin legt die Hand auf ihre Schulter.
Ich halte fest: «Überraschend: nette Verstorbene!» Ich habe Unheimlicheres erwartet.
In einer zweiten Runde wird Medium 1 eine gepflegte Verstorbene, auch sie siebzig Jahre, sehen: «Wenig Falten, trug eine Schürze zum Kochen. Wollte sie sich nicht schmutzig machen?»
Ich notiere: «Medium 1 ist sehr emotional. Sie hat eine Vorliebe für Verstorbene mit Hang zu Häuslichkeit.»
Dann ist Medium 2 an der Reihe. Grossgewachsen, dichtes, krauses Haar, etwa fünfzig, trägt Hornbrille und ist aus Luzern angereist. Seine Eingebungen kommen wie aus der Pistole geschossen, seine Armbewegungen sind raumfüllend.
Medium 2: «Ich sehe eine füllige Frau. Ich sehe viele, sehr viele Räume.» Er nimmt Denkerpose ein.
«Sie hatte ein Flair für schöne Sachen. Alles ist schön assortiert.» Frau 3 aus dem Publikum: «Ich kenne sie. Sie ist eine Bekannte. Sie war Innenarchitektin.»
Medium 2: «Bist du sicher?»
Frau 3: «Ich bin sicher.»
Medium 2: «Dann habe ich die Botschaft.»
Er hält inne. Seufzt, beugt sich vor und presst die Hände vor das Gesicht: «Sie zeigt mir ihr Samtkleid. Sie fährt mit der Hand über den Stoff.»
Sie habe mit Sinnlichkeit gearbeitet, mit Stoffen und Gegenständen, doch den Menschen habe sie zu wenig Nähe gezeigt, sagt Medium 2. «Sie sagt, es ist wichtig, Leute zu berühren. Geht auf andere zu. Unterschätzt nicht eure Power, unterschätzt nicht, dass ihr wichtig seid für andere.» Zustimmendes Raunen geht durch den Raum.
Mich erinnert die Botschaft an das Bonmot eines Glückskekses. Meine anfängliche Anspannung macht einer heiteren Gelöstheit Platz. Was ich ausserordentlich schätze: Die Verstorbenen sind sehr diskret und anständig.
Hans sieht an dem Abend einen jungen Mann: «Hellbraune Haare, Jeans, dynamisch.»
Er sieht Autostrassen, «einspurige Strassen, Wald».
Frauen 4 und 5, Mitte zwanzig, sie sehen sich ähnlich, vermutlich Schwestern, melden sich. Ostschweizer Dialekt.
Hans: «Er liebte die Menschen, war ein Lebemann, aber doch war er sehr unabhängig und eigenständig. Könnt ihr das verstehen?»
Frauen 4 und 5 nicken. Es sei ein Bekannter, sagen sie, der bei einem Autounfall früh ums Leben gekommen sei.
«Wir sind uns sicher», sagt Frau 5.
Dann, sagt Hans, habe er jetzt die Botschaft.
Frauen 4 und 5 halten sich an der Hand.
Hans: «Lebt, solange es geht! Lebt weiter!»
Frauen 4 und 5 nehmen sich in den Arm.
An dem Abend melden sich diverse Gäste aus dem Jenseits. Es kommt auch ein Mann, der einst als Migrant in Bern lebte, und eine junge, blonde Frau, die sich das Leben nahm. Für mich ist niemand darunter. Ich bin offensichtlich kein Magnet für alle möglichen Verstorbenen. Und auch der rätselhafte Schnauzträger meldet sich nicht.
Ich denke zurück an die Episode mit meinem vermeintlichen Vater. Habe ich trotz meinem Unglauben nicht trotzdem ein Unbehagen verspürt, weil ich nicht sicher bin, was er mir zu sagen hätte? Mein Vater war sehr plötzlich verstorben.
Eine Blutvergiftung hatte ihn nach einem wochenlangen Kampf auf der Intensivstation aus dem Leben gerissen. Ich reiste in diesen letzten Wochen fast täglich nach meiner Arbeit zu ihm, um an seinem Bett zu sitzen. Bei Bewusstsein war er schon nicht mehr. Ich hoffte, dass er meine Gegenwart trotzdem spürte. Hatte ich Angst vor den vielen Gefühlen, dem Ungesagten, den ungelösten Fragen, die sein unerwartetes und schmerzvolles Sterben mir aufgedrängt hatte?

Ich liege auf einem schmalen Bett im Raum und versuche zu registrieren, was gleich mit mir passiert.
Ich erinnere mich, wie ich nach seinem Tod eine alte Kiste mit Schwarzweissfotografien sortierte. Bilder, auf denen er als junger Mann zu sehen war. Aufnahmen, die ihn im mittleren Alter zeigten, neben Lawinenverbauungen. Zusammen mit Hilfsarbeitern, Forschern. Sie alle lachten in die Kamera. Hatte ich ihn überhaupt gekannt? Sein Tod aus dem Nichts hatte es mir verunmöglicht, Abschied zu nehmen.
Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, hatte die Geister zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Zone des Unbewussten eingemeindet. Er erklärte das unheimliche Gefühl als Angst vor einer Wiederkehr, Angst vor dem insgeheimen Wissen darum, dass unter der Oberfläche des Ich ein Unbewusstes liegt, das unter dem Radar des Verstandes operiert: ein Reich, das weder Zeit noch Raum respektiert und den Tod nicht kennt. Ein massloses Reich der Wünsche und Phantasien, ein Reich, das nicht zwischen dem eigenen und dem anderen unterscheidet – so wenig wie zwischen den Lebenden und den Toten.

Während der Heilung bewegt sich Hans langsam. Beim Handauflegen folgt er seiner Intuition.
All die Rituale, sagte Freud, mit denen wir die Verstorbenen betrauern und verabschieden, machen wir vielleicht eben darum, um uns und die Toten zu besänftigen, damit die Toten tot bleiben und uns nicht heimsuchen.
Bin ich an diesem Abend Zeugin eines solchen Rituals? Vielleicht geht es den Menschen hier ja eben genau darum, diese Diffusität, mit der ich selber hadere, in den Griff zu bekommen. Das Wispern der Zweifel zu bannen, das sich in dieser vagen Zone zwischen dem Ich und dem Anderen einnistet. Die dumpfen Echos zu übertönen, die von der Undeutbarkeit des Todes bis ins Reich der Lebenden dringen.
Die Verstorbenen hier scheinen nicht zu leiden an dem Ort, an dem sie sich aufhalten. Sie kommen ohne Vorwurf und ohne Poltern. Das Ganze hat etwas von einer Soap-Opera mit einem unsichtbaren Cast, in der die Medien den Verstorbenen einen kurzen Cameo-Auftritt im Leben der Anwesenden verschaffen. Sie zeigen sich bei ihren kurzen Auftritten von der besten Seite, so wie Lebende an einem ganz guten Tag: Es geht um Versöhnung und Dankbarkeit. Es geht um Trost aus dem Jenseits.
Etwas hat sich seit dem Beginn meines Selbstversuchs verändert: Auch wenn ich noch immer nicht an Geister und an das Jenseits glauben kann, habe ich meine Berührungsängste ein wenig verloren. Ich will den Verstorbenen und mir eine Chance geben.
Das neugierige Mädchen
Monate später liege ich in einem kleinen, weissen Zimmer in der Berner Länggasse auf einem schmalen Bett im Raum. Hier bietet Hans seine Geistigen Heilungen an. Er arbeitet mit den Energien Verstorbener, die durch seine Hände wirken sollen. Dem Fenster zugewandt, spüre ich selbst bei geschlossenen Augen das gelbe Licht des Winters. Ich versuche genau zu registrieren, was mit mir geschieht. Ich spüre die Hände von Hans auf meinen Knien, dann an meinen Fussgelenken, auf dem Bauch, an den Schultern und zuletzt an meinem Kopf. Ich empfinde dabei: erst ziemliche Verunsicherung, dann nach und nach Wärme, die meinen Körper von den Punkten der Berührung aus in Wellen durchflutet.
Hans legt seine Hände minutenlang auf, ohne die Position zu ändern. Irgendwann kann ich seine Arme nicht mehr von meinem Körper unterscheiden. Sie werden Zweige, die aus mir wachsen. Ich denke an den nahen Wald und den Schnee, der dort liegt. Als seine Hände meinen Kopf umfassen, fühle ich sein leichtes Zittern.
Von Geistern spüre ich auch an diesem Nachmittag nichts. Anders Hans. Als er seine Hände auflegt, sieht er ein kleines Mädchen. Es habe ihm neugierig zugeschaut, blieb nur kurz und ging dann wieder. Er wisse nicht, wer das Kind sei, warum es kam und wohin es ging. Und auch mir sagt es nichts. Dass Hans etwas sieht, was ich nicht sehe, ist für mich in Ordnung. Ich spüre einzig eine leise Enttäuschung, dass sich der Schnauzträger nicht meldet.
Tage später, es ist Ende Februar, treffe ich Hans zu einem Spaziergang entlang der Aare. Die warme Brise trägt das Versprechen des Frühlings mit sich. Wir schlendern auf einem abschüssigen Kiesweg, als Hans auf einen freistehenden Baum in der Ferne deutet. Er spürt die Frau von weitem. Sie trägt Kleider aus einer anderen Zeit. Er bittet den Fotografen, kein Bild zu machen, das den Ort erkennbar zeigt. Er wolle die Frau nicht stören und keine «Geistertouristen» anlocken. «Es wäre indiskret.» Denn was diese Frau beim Baum mache, wer sie sei und warum er sie sehe – dies alles, sagt Hans, sei eigentlich irrelevant. Sie habe keine Botschaft, sie sei einfach da. Und sie verdiene unseren Respekt und unsere Rücksichtnahme.
Ein neues Jenseits
Die Behutsamkeit, mit der Hans der Frau begegnet, erinnert mich an die Jenseitssehnsucht der Pietisten. Der schwedische Visionär und Mystiker Emanuel Swedenborg, Sohn eines lutherischen Bischofs, entwarf im 18. Jahrhundert ein neues Jenseits. Er ebnete den Geistern und späteren Spiritisten den Weg, indem er aus den verstorbenen Seelen der Katholiken die netten Onkel, Tanten und Grossmütter in einer anderen Welt machte: ätherische, anständige Versionen der Lebenden. Diese Geisterwesen waren nicht entrückt, sondern standen für Swedenborg in Kontakt mit besonders lauteren Seelen Lebender.
Der reformierte Zürcher Theologe Johann Kaspar Lavater schien eine solche zu besitzen. Nicht nur war er ein führender Physiognom seiner Zeit – der Pfarrer und Vielschreiber gab um 1800 an, von einem verstorbenen Freund aus dem Jenseits Reflexionen diktiert bekommen zu haben. Der Verstorbene verglich darin seine Suche nach einem sittlich einwandfreien Lebenden, dem er sich zeigen könne, mit dem Flattern eines «Papillon, der über den Blumen schwebt».

Hans weiss nicht, wer die Frau beim Baum ist und warum sie sich dort aufhält. Er sieht sie einfach. Stören will er sie nicht.
200 Jahre später lesen sich diese Passagen wunderlich. Und doch verbindet etwas den Schmetterlingsflug des verstorbenen Freundes von Lavater mit der Frau im Baum, die Hans sieht. Geistererscheinungen sind eine Form der Rückversicherung, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht. Es ist der Versuch, das ewige Leben zu retten. Der Spiritismus und seine Gemeinschaft mit Verstorbenen ist eine Antwort auf das Heute, in dem das Jenseits prekär geworden ist und den Toten ein Territorium fehlt.
Hans und ich sitzen eine Weile am Fuss des Baumes, das Gesicht in der Sonne. Ich spüre nichts von der Anwesenheit der Frau. Und ein letztes Mal frage ich Hans, ob jemand aus dem Jenseits eine Botschaft für mich habe. Er sagt: Nein. Vielleicht habe ich den rätselhaften Schnauzträger mit meiner Skepsis einfach vertrieben.
Heimat für die Toten
Ich habe keine fixe Vorstellung mehr davon, was nach dem Tod kommt. Für mich sind da: Leere. Zweifel. Ein Blackout. Zwischen dem Leben und diesem unsagbaren Nichts gibt es für mich einfach keine Vermittlung mehr. Jean Baudrillard bezeichnete den Tod einst als obszön, als «Abnormalität», als Skandalon der diesseitigen Gegenwart. Der Materialismus macht die Verstorbenen zum Leichnam, zu einem unappetitlichen Rest, einem Klumpen Fleisch, der an das Nichts erinnert. Lebende Tote werden zu Zombies, Untoten und Monstern. Weil Auferstehung undenkbar wird, drohen die Toten heimatlos zu werden, in einem Niemandsland der Albträume gefangen – wenn wir sie vergessen. Wenn wir uns nicht erinnern.
Für mich als Jenseitsskeptikerin ist die Erinnerung das einzige, was bleibt. Das einzige, was ich dem Tod entreissen kann.
Auf dem Heimweg besuche ich die Dreifaltigkeitskirche in der Nähe des Bahnhofs. Es war jener Ort in Bern, den ich in den Wochen, als mein Vater um sein Leben rang, immer wieder aufgesucht hatte. Auch wenn ich nicht mehr glaubte, so war für mich die Kirche eine Stätte der Zuflucht geblieben. Ich setze mich, wie damals, vorne in das linke Schiff und betrachte das blaue Gewölbe mit den gelben Sternen über mir. Dann falte ich die Hände und denke an meinen Vater. Bevor ich die Kirche verlasse, zünde ich eine Kerze an. Das will ich von nun an regelmässig tun.