Herr Becker, Sie werden die Wahl ins Pfarramt nicht annehmen. Warum?
Der Wirbel um meine Person und meine Lebensform würde nicht aufhören. Ich habe davor keine Angst, aber ich möchte mir das nicht antun. Ich will als Pfarrer arbeiten und nicht ständig meine Lebensform rechtfertigen müssen. Die Frohbotschaft sollte im Zentrum sein und nicht die Drohbotschaft.
Drohbotschaft?
Die Frohbotschaft ist, dass alle in der Gemeinde und bei Gott willkommen sind. Aber wenn bereits der Pfarrer nicht richtig willkommen ist, wie soll das gehen? Die Drohbotschaft schliesst andere aus.
Es haben Sie aber auch viele Kirchbürgerinnen und -bürger gewählt.
Ja, dessen bin ich mir bewusst. Aber bei den anderen war ich nicht willkommen. Und wenn man sogar bei Mitarbeitenden der Kirchgemeinden Hass spürt, sind das schlechte Startvoraussetzungen.
Die Frohbotschaft wäre ja auch eine Befreiung von Hass und Vorurteilen. Sie hätten sagen können: Jetzt erst recht.
Das stimmt. Aber im Grunde verbreite ich die Frohbotschaft an jedem Ort, auch hier in St. Gallen-Straubenzell, wo ich jetzt als Pfarrer arbeite. Und durch diese Geschichte ist jetzt im Thurgau sicher etwas angestossen worden.
Sind Sie enttäuscht oder eher erleichtert?
Beides. Enttäuscht bin ich, weil es in der Kirche einen Fundamentalismus gibt, den ich vorher nicht gespürt habe. Die Bibel wird missbraucht, um Menschen auszugrenzen. Das enttäuscht mich masslos.
Und warum erleichtert?
Weil ich den Mut gefunden habe, dieses Pfarramt abzulehnen. Sicher sind jetzt Leute auch enttäuscht, die mich gerne bei sich gehabt hätten. Aber es ist besser, rechtzeitig Nein zu sagen, als nachher im Schlamassel zu stecken. Ich bin auch froh, dass ich meinen Glauben nicht verloren habe. Aber jener an die Kirche und ihre Menschen hat ganz schön gewackelt.
Ihr Glaube hat gewackelt?
Es gab und gibt bei mir zweifelnde Fragen, auf die ich keine Antwort bekomme. Aber ich habe die Gegenwart Gottes in den letzten Wochen gespürt, und das ist mir wichtiger als Antworten. Klingt fromm, ist auch so (lacht).
Dafür spürten Sie viel Solidarität in St. Gallen.
Das stimmt. Es gab auch aus Dussnang und Bichelsee Solidaritätsbekundungen – mit Mails, Briefen, sogar Blumensträussen. Rund um Ostern bekam ich zudem täglich bis zu zwanzig unterstützende Mails von Menschen aus der Deutschschweiz. Das hätte ich nicht gedacht. Schön war auch die Reaktion meiner Konfirmanden: zwanzig Jugendliche, die entsetzt waren, was die Medien berichteten, insbesondere der Blick. Ihre Reaktion war einfach klasse. Übrigens auch jene der katholischen Kollegen in St. Gallen. Eine Katholikin sagte mir: «Mein Gott, ich dachte, wir Katholiken seien die Rückständigen.»
Stört es Sie, dass Ihre Sexualität so in den Vordergrund gerückt wurde?
Ja. Ich werde auf Körperliches reduziert, auch in der Beziehung zu meinem Partner. Es geht hier aber um Liebe, um eine Herzensangelegenheit. Die Gegnerinnen und Gegner reiten auf der Sexualität herum und sehen das Grosse und Schöne der Liebe nicht mehr. Das verletzt mich. Es ist wie im ersten Buch Samuel, Kapitel 16: «Der Mensch urteilt nach den Augen, der Herr aber urteilt nach dem Herzen.» Der Mensch sieht nur den Körper. Aber wir Menschen sind ja viel mehr als das.
Das erinnert an Papst Franziskus.
«Der Glaube an Gott ist deutlich da, aber jener an die Kirche und ihre Menschen hat ganz schön gewackelt.»
Richtig. Dass er sich nicht zur Homosexualität äussert, hat nichts damit zu tun, dass der Papst das Thema scheut, sondern es ist einfach nicht das Thema der Kirche. Sie hätte anderes zu tun.
Wäre es besser gewesen, Sie hätten Ihr Schwulsein verheimlicht?
Nein. Ich habe nie grosses Aufheben darum gemacht, auch nicht vor der Pfarrwahlkommission in Bichelsee und Dussnang. Ich hab’s einfach gesagt. Eigentlich war’s das für mich. Für andere aber offenbar nicht.
Vielleicht gibt es Menschen, die Angst vor Homosexualität haben?
Möglich, aber ich verstehe diese Angst nicht und möchte ihr gerne begegnen. Ich bin offen für ängstliche Menschen, mit mir kann man reden. Aber vielleicht war das gerade die Angst: Ich bin ein ganz normaler Typ und lache viel. Vielleicht erwartet man das gar nicht von einem Schwulen?
Wie sind Sie bisher im Beruf mit Ihrer Homosexualität umgegangen?
Sie war nie gross ein Thema. Wer mich gefragt hat, bekam eine Antwort. Aber ich habe nie eine Regenbogenfahne getragen, und auch theologisch ist sie nicht meine Berufung. Gut, an Ostern habe ich extra einen rosafarbenen Hasen ans Fenster geklebt (lacht).
Was werden Sie nun beruflich tun?
Ich weiss es nicht. Ich bin weiter Pfarrer in St. Gallen. Viele hier sagen: Bleib doch. Aber ich möchte einmal ein vollumfängliches Pfarramt ausüben – von der Wiege bis zur Bahre sozusagen. Jetzt habe ich hier den Schwerpunkt Kinder, Jugendliche und Familie. Am Sonntag nach dem Gottesdienst haben die Leute auch gefragt: Was machen Sie jetzt? Und ich sagte: Im Moment lebe ich einfach von Tag zu Tag und geniesse den Frühling. Aber vor Ostern ging’s mir wirklich schlecht.
Sie erlebten eine Passionsgeschichte im kleinen.
Klingt unglaublich, aber ja, das kann man so sagen. Am Karfreitag war ich am Boden, und am Ostersonntag hat mich ein guter Freund wieder aufgerichtet. Das hat ganz viel in mir bewirkt.
Ihre erste Stelle haben Sie in St. Gallen angetreten. Ist Ihnen nach den Ereignissen im Thurgau nun das Berufsleben verleidet?
Nein, ich fühle mich im Pfarrberuf noch immer voll und ganz wohl.
Mit Maik Becker sprach Matthias Böhni.
Pfarrer Maik Becker (38) wurde in Essen geboren und hat Theologie in Bochum, Marburg, Bonn und Wuppertal studiert. Seine erste Stelle hat er 2010 in der Kirchgemeinde St. Gallen-Straubenzell angetreten.
Die beiden evangelischen Kirchgemeinden Dussnang und Bichelsee teilen sich seit der Reformation einen Pfarrer. Da der jetzige Seelsorger bald pensioniert wird, sollte der deutsche Maik Becker, Pfarrer in St. Gallen-Straubenzell, seine Nachfolge antreten. Während die Kirchgemeinde Dussnang ihn deutlich als neuen Pfarrer wählte, versuchte ein Grossteil der Gemeindemitglieder in Bichelsee, Becker als Pfarrer zu verhindern. Sie legten leere Wahlzettel in die Wahlurne. Grund für die Ablehnung war Beckers offen gelebte Homosexualität. Bei der Behandlung des Wahlgeschäfts in Bichelsee seien die Qualitäten als Seelsorger kaum zur Sprache gekommen, hiess es in der Thurgauer Zeitung. Um zu belegen, dass Homosexualität eine Sünde sei, zitierten laut der Zeitung einige Becker-Gegner aus der Bibel: Paulus habe im Römerbrief geschrieben, dass Männer, die mit Männern Schande trieben, nach Gottes Recht den Tod verdient hätten. Auch bekam Becker anonyme Mails, in denen er verunglimpft wurde. Becker entschied sich, die Stelle nicht anzutreten Auch wenn er in beiden Gemeinden formal gewählt gewesen wäre. bat