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Autorin: Susann Sitzler
Freitag, 06. Oktober 2017

Die Geschichte des Eremiten Bruder Klaus spielt vor über fünfhundert Jahren, noch vor der Reformation. Bis heute versuchen Menschen, darin Sinn und Belehrung zu finden, die auch für die heutige Zeit gelten können.

Ich habe von Bruder Klaus zum ersten Mal in der Primarschule gehört, in den 1980er Jahren im reformierten Basel. Nicht die Visionen und die Gottessuche standen im Mittelpunkt, wenn die Lehrerin erzählte. Vielmehr die Information, dass ein Einsiedler ein Mensch ist, der alleine und abgeschieden wohnt, damit er sich seinem Innenleben und Gott widmen kann. Wir nahmen es schulterzuckend zur Kenntnis. Man erfährt als Kind so vieles, das man nicht versteht. Warum nicht einer, der zwanzig Jahre allein im Tobel lebt, ständig betet und nichts mehr isst?

Und jetzt, fast vierzig Jahre später, im Jahr seines 600. Geburtstags, soll ich Bruder Klaus zum ersten Mal in Flüeli-Ranft im Kanton Obwalden besuchen. In seine Klause gehen und herausfinden, ob er mir noch etwas sagen kann. Dieser Nationalheilige der Schweiz, der anders als etwa Tell historisch verbrieft ist und wirklich gelebt hat. «In Flüeli-Ranft ist alles noch wie damals», sagt ein katholischer Bekannter mit leuchtenden Augen. «Es ist ganz still dort, ein Kraftort.» Ich bin skeptisch. Stille und Spiritualität, damit kann ich etwas anfangen. Ich spreche gerne mit Gott, und wenn ich mich nicht zu sehr ablenken lasse, höre ich, was er sagt. Doch demonstrative Beseelung und offensiver Glaube, der kritische Fragen verstummen lässt, sind mir suspekt.

Dass es Menschen gibt, die einem Hirten folgen wollen, als wären sie Schafe, ist mir unheimlich. Und dass es so viele Leute gibt, die über einen Mann aus dem Mittelalter sprechen und schreiben, als hätten sie ihn persönlich gekannt, das geht mir auf die Nerven. In diesem Feierjahr haben sich besonders viele zu Wort gemeldet: Heiligenverwalter nicht nur aus der Kirche, sondern auch aus der Politik.

Der Weg hinunter ins Tobel ist einfach. Schwierig ist, dort zwischen all den Stimmen etwas Eigenes wahrzunehmen.

Es ist eine Herausforderung, Bruder Klaus zu besuchen. Ich nehme sie an. Vom gottlosen Berlin, wo ich seit vielen Jahren lebe, reise ich ins katholische Obwalden, setze mich hinunter in den Ranft und schaue, was passiert.

Die Schlucht, in den Berg gefräst von Milliarden Litern Wasser, ist nur wenige Schritte entfernt vom Dorf Flüeli, wo Niklaus geboren wurde. Der Weg hinunter ins Tobel ist einfach. Schwierig ist, dort zwischen all den Stimmen etwas Eigenes wahrzunehmen.

Was tun an diesem Ort?

Von der Stille, die mein Bekannter erwähnt hat, merke ich nichts. Die Melchaa, ein Zufluss des Sarnersees, tost durch die enge Schlucht. Am Hang gegenüber bringen die Bauern gerade mit brüllenden Mähmaschinen das Heu ein. Wenn sie Pause machen, hört man die Grillen umso schriller. Die Einsiedlerklause steht am Eingang der Schlucht und sieht aus wie für einen Heimatfilm entworfen. Von 1467 bis zu seinem Tod am 21. März 1487 hat Niklaus von Flüe als Bruder Klaus hier gelebt. Das Hüttchen ist angebaut an eine schneeweisse Kapelle, beide teilen sich ein Giebeldach. Die Besucher kommen und gehen. Zum Glück sind nicht alle so zackig unterwegs wie der Pilger mit den Locken und dem Holzkreuz um den Hals. Mit weit ausschwingenden Wanderstöcken überholt er mich auf den letzten Metern. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er als erster die Zelle zu betreten gedenkt. Ich habe Zeit und lasse ihn vorbei.

Zu einem Mittler beten, einem Menschen, ihm einen Bitt- oder Dankesbrief schicken? Hätte Niklaus von Flüe diese ganze Dankbarkeit überhaupt interessiert? Autorin Sitzler am Ort des Geschehens.

Nach fünf, sechs Minuten kommt er wie ein Pfeil wieder aus der Klause geschossen und eilt weiter in Richtung der zweiten Kapelle, die sich ein Stück weiter unten im Ranft befindet. Später wird er im Sigristenhaus einen Pilgerstempel holen, als Nachweis für seinen Fleiss.

Ich stehe vor der Klause und spüre einen seltsamen Widerstand, hineinzugehen. Ein enger, dunkler Raum, in dem schon so viele Leute ihre Gefühle und Erwartungen abgeladen haben. Das Stiegenhaus ist dunkel. Ich steige hinauf zu einem viereckigen Kämmerchen aus uraltem Holz – die eigentliche Zelle. Licht kommt durch zwei winzige Fensterchen von draussen. An einer Wand steht eine schmale Bank, eher ein Brett, darauf ein kantiger Stein. Wieder sieht es aus wie auf einem Filmset. Ich bin ratlos. Was tut man an einem solchen Ort?

Forsch tritt ein Paar ein. Der Mann durchmisst den Raum mit drei, vier schweren Schritten, als ginge es um eine Wohnungsbesichtigung. Den Kopf muss er einziehen, die Decke ist nur 1,80 Meter hoch. Bruder Klaus selbst, der Sage nach 1,78 gross, soll das Haupt darin immer etwas gesenkt gehalten haben. Zögernd klettert die Frau über eine zweite Treppe hinab in den unteren Raum der Klause. Bis auf einen kleinen Ofen ist er leer und beklemmend stickig. Hastig kommt sie wieder hinauf. «Alles da, was du brauchst», bilanziert der Mann dennoch.

Beim Hinausgehen studieren beide die Dankestafeln im Stiegenhaus. Die meisten sind aus Holz und halten sich knapp. Danke für das Wunder. Danke für die Heilung. Dazwischen hängt der getippte Brief einer Familie, datiert von 1973. Gründlich wie in eine Versicherungsprotokoll schildern sie, wie ihrem Kind im Wohnzimmer der Fernseher auf den Kopf kippte und man mit dem schlimmsten rechnete. Das Schreiben rapportiert die Rettungsmassnahmen der Ärzte und erklärt, dass das Kind schliesslich durch eine Messe und die Fürbitte von Bruder Klaus geheilt werden konnte.

Der Gegensatz aus Nüchternheit und Wunderglaube wirkt bizarr. Trotzdem lässt er mich nicht los: Ist es wirklich ein Gegensatz? Auch ich setze auf die Vernunft und bete doch manchmal in Not. Das letzte Mal, als ich mitten in der Nacht meinen ganzen Schlüsselbund in der U-Bahn-Station verlor und es erst auf dem Heimweg merkte. Panisch ging ich den Weg zurück und beschwor Gott, er möge mir helfen. Als ich am U-Bahn-Eingang verzweifelt stehen blieb, um zu überlegen, was ich jetzt tun sollte, fiel mein Blick auf ein Mäuerchen etwas abseits. Dort lag der Bund mit all meinen Schlüsseln. Jemand musste ihn gefunden und dorthin gelegt haben. Die Dankbarkeit, dass mein Gebet erhört worden war, trug mich noch tagelang. Oder war es das Adrenalin? In manchen Momenten wage ich es, mich auf Gott zu verlassen. Die Frage, ob dann Glaube, Aberglaube oder Psychologie wirken, ist mir ziemlich egal.

Niklaus vermischt sich mit unseren Vorstellungen von ihm. Bis er komplett vereinnahmt ist.

Doch zu einem Mittler beten, einem Menschen, ihm einen Bitt- oder Dankesbrief schicken? Hätte Niklaus von Flüe diese ganze Dankbarkeit überhaupt interessiert?

Die Familie, in die er 1417 hineingeboren wurde, war angesehen, gottesfürchtig und privilegiert. Sie hatte eigenes, zinsfreies Land und musste niemandem den Zehnten entrichten. Auch Niklaus war Bauer, später dann Richter und Vertrauensmann der Pfarrei. Ein angesehener Mann in Obwalden, dem man sogar die Position des Landammanns antrug. Dann der Bruch: Mit 48 Jahren legt er alle Ämter nieder. Eine quälende innere Unruhe soll ihn erfasst haben. Wenig später verlässt er seine Frau und seine zehn Kinder und zieht hinunter in die Schlucht.

Ein radikaler Bruch

Eine Gruppe Seniorinnen steigt in die Zelle. Eine nach der anderen folgen sie der Reiseführerin. Als die Hälfte drinnen ist, macht sich Unruhe breit. Nichts geht mehr. Von hinten drängt der Rest der Gruppe nach. «Ich sehe hier gar nichts», meint eine. Keine der Damen hat daran gedacht, die Sonnenbrille abzunehmen. «Auf diesem Stein hat er den Kopf gelagert, das habe ich schon als Kind gelernt», sagt eine andere, die direkt vor dem Bänklein zu stehen gekommen ist. Dann schüttelt sie ungläubig den Kopf: «Dass er dafür seine Familie verlassen hat!»

Für seine Zeit heiratete Niklaus von Flüe spät, mit fast 30 Jahren. Seine Frau Dorothee war 14 oder 15 Jahre alt. Fromm und von gutem Charakter soll sie gewesen sein. Katholische Kreise bemühen sich, dass auch sie – wie ihr Mann – heiliggesprochen wird. Eine Überlieferung besagt, dass die Eheleute sich sehr zugetan gewesen seien. Fast alles, was je über Bruder Klaus verfasst worden ist, stützt sich auf die wenigen bekannten Lebensdaten und auf ein paar Zeugnisse von Nachbarn und Zeitgenossen. Oder auf spätere Berichte von Menschen, die ihn ebenso wenig kannten wie wir heute. Dadurch wird Niklaus nicht greifbarer, im Gegenteil. Er vermischt sich immer mehr mit unseren Vorstellungen von ihm. Bis er komplett vereinnahmt ist.

Ich setze mich auf die Bank hinter der Klause und beobachte einen Mann, der am plätschernden Brunnen neben dem Sigristenhaus sitzt. Den Kopf hat er gesenkt, die Hände sind aneinandergelegt. Betet er? Nein. Er tippt an seinem Handy herum. Später kommen junge Paare, Familien in grellen Wanderjacken, Männer in altertümlichen Gilets und natürlich auch Nonnen. Je länger ich hier so sitze, desto vertrauter wird mir die Stimmung. Desto leichter kann ich mich von den unzähligen Berichten und Bildern lösen, die schon jemand von diesem Ort angefertigt hat.

Das, was Bruder Klaus von den Mysterien des Christentums kannte, hatte er in Gottesdiensten und von Nachbarn gehört, vielleicht in der Kirche auf den Wandmalereien gesehen. In der Bibel gelesen hat er wahrscheinlich nie. Das war die Kunst weniger Kleriker und Mönche.

Im Innern der Klause, ein enger, dunkler Raum, in dem schon so viele Leute ihre Gefühle und Erwartungen abgeladen haben.

Bereits in jungen Jahren soll Niklaus anders gewesen sein als seine Kameraden. Er habe regelmässig gefastet und «visionäre Ergriffenheit» gezeigt. Es müssen strahlende Traumbilder gewesen sein, rätselhaft lichtdurchflutete Wahrnehmungen in einer Bergwelt, deren allumfassende Dunkelheit in der Nacht noch nicht von Elektrizität gemildert wurde.

Bruder Klaus habe das freie Beten praktiziert. Das war vor sechshundert Jahren noch nicht verbreitet. Fromm zu sein hiess in erster Linie, die Zehn Gebote zu befolgen und sich zur Kirche zu bekennen. Überliefert ist, dass die meisten Leute eher mechanisch beteten, mehr Lautbeschwörung als Zwiegespräch.

Vom Krieg gezeichnet

Als Einsiedler soll Niklaus von Flüe erschreckend ausgesehen haben. Das wird von Zeitzeugen berichtet. Ich stelle ihn mir vor wie eine der ausgezehrten Gestalten mit wirrem Blick, denen man heute manchmal in Grossstädten begegnet. Wie es damals üblich war, zog er bereits als Heranwachsender mehrfach in den Krieg. So kämpfte er im Alten Zürichkrieg, an dem Obwalden seit 1443 beteiligt war, auf der Seite der Alten Eidgenossenschaft gegen Zürich. In dem Konflikt sollen die Eidgenossen einen neuen Massstab an Brutalität und Grausamkeit gesetzt haben.

Nicht nur auf den Schlachtfeldern, wo man einander mit Schwertern und Hellebarden die Köpfe abschlug. Auch die Zivilbevölkerung wurde nicht verschont, wenn die Eidgenossen über die Zürcher Gebiete herfielen. Niklaus von Flüe soll einer der Offiziere gewesen sein, die möglichst wenig Schaden anzurichten versuchten, berichtet später einer seiner Kameraden, der mit ihm im Krieg war. Und auch im Feld habe er sich, wann immer möglich, zum Beten zurückgezogen. Spurlos werden diese Jahre dennoch nicht an ihm vorbeigegangen sein.

Zu wissen, dass man nie mehr neben dem warmen Körper eines Menschen schlafen wird, ist keine kleine Sache.

Er wird erlebt haben, wie es tönt, wenn Menschen in Todesangst rennen, vielleicht Frauen mit brennenden Haaren aus den Häusern stürzen, einen schreienden Säugling auf dem Arm. Und er wird auch gewusst haben, wie verbranntes Menschenfleisch riecht.

Die Kämpfe des Alten Zürichkriegs endeten 1446. Ungefähr zu dieser Zeit heirateten Niklaus und Dorothee und bauten ein Haus in Flüeli, nur wenige Meter von da, wo heute der Weg hinunter in die Ranftschlucht führt. Das Haus wurde 1946, ein Jahr bevor Niklaus von Flüe heiliggesprochen wurde, so originalgetreu wie möglich rekonstruiert. Man betritt heute ein stabiles Chalet mit offener Küche und mehreren Stuben. Umgeben ist es von einer saftigen Matte. Wer sich dort umschaut, zu dem überwältigenden Panorama der Berge, den Fluhen, dem See und den Gärten im Sonnenlicht, sieht die Schweiz so, wie sie sich die Touristen aus der ganzen Welt und auch manche Schweizer erträumen. Keine Spur von Krieg und Verheerung. Hier oben war wohl immer Frieden.

Die Familie von Niklaus und Dorothee gedieh. Kind um Kind bekam das Paar, am Ende fünf Buben und fünf Mädchen. Als Niklaus mit Ende vierzig seine seelische Krise bekam, waren seine ältesten Söhne schon erwachsen. Der Vater nahm kaum noch am gemeinsamen Leben teil und sass auch nicht mehr dabei, wenn sich die Familie am Tisch versammelte. Die meiste Zeit fastete er und brütete vor sich hin. Nachts sei er im Haus herumgegeistert und habe laut gebetet, berichtete sein ältester Sohn.

Einem Besucher erzählte Niklaus später in der Klause, dass ihm in jener Zeit sogar «die liebe Frau und die Gesellschaft der Kinder lästig» waren. Zwei Jahre lang habe er mit sich und auch mit Dorothee um die Frage gerungen, wie es in seinem Leben weitergehen sollte. In dieser Zeit zeugten sie ein weiteres Kind. Im Sommer 1467 kam es zur Welt, drei Monate später zog Niklaus von Flüe los, um von nun an als Bruder Klaus zu pilgern.

Eigenhändig habe Dorothee ihm das Gewand dafür genäht. Eine merkwürdige Einsamkeit liegt über dieser Erzählung. Loszuziehen und zu wissen, dass man nie mehr neben dem warmen Körper eines Menschen schlafen wird, ist keine kleine Sache. In einer Schrift heisst es, dass er noch als Einsiedler hin und wieder von den frühen glücklichen Ehejahren halluziniert habe.

Abend im Ranft, endlich Ruhe. Morgen führt die Reise zurück nach Berlin.

Das Pilgern führte ihn über Umwege zurück auf seine Alp im Melchtal. Von dort sollen ihn vier Lichtstrahlen in die Ranftschlucht gelenkt haben. Und so stieg er wohl durch den wilden, steilen Wald hinab und bereitete sich sein Lager. Zuerst habe er sich selbst aus Zweigen und Ästen eine notdürftige Bleibe gebaut. Doch schon im folgenden Jahr kamen Freunde, errichteten ihm die stabilere Klause und bauten auch gleich noch die Kapelle dran. Die Sage vom ehemaligen Amtsmann, der nun als Einsiedler im Tobel lebte, verbreitete sich rasch. Gegen Ende seines Lebens herrschte ein solcher Andrang, dass der Landammann von Obwalden sich genötigt sah, die Anzahl Besucher zu beschränken, damit der Eremit gelegentlich auch noch seine Ruhe hatte.

Der Bischof bestätigte das Wunderfasten. Die Verwaltung des Wunders konnte beginnen.

Was die Menschen an Bruder Klaus besonders interessierte, war das Fasten. Absolut gar keine Nahrung und auch kein Wasser soll der Einsiedler zu sich genommen haben.

Irgendwie feinstofflich soll der Geist des Abendmahls, wenn es in der Kapelle zelebriert wurde, in ihn übergegangen sein und ihn am Leben erhalten haben. Manche witterten Betrug. Einen ganzen Monat lang wurden Wächter in der Schlucht postiert, um sicherzustellen, dass niemand Niklaus heimlich mit Essen versorgte. Nach eineinhalb Jahren, im Frühling 1469, kam schliesslich der Weihbischof von Konstanz, um Bruder Klausens Kapelle zu weihen.

Bei dieser Gelegenheit wurde auch gleich noch die Sache mit dem Wunderfasten geklärt: Der Bischof legte ihm ein in drei Teile gebrochenes Stück Brot hin. Er forderte den Fastenden auf, das Brot zu essen. Daraufhin handelte Bruder Klaus ihn auf ein Stück herunter, das er nochmal in drei kleinere Teile zerzupfte. Dann würgte er, so geht die Sage, mit einem winzigen Schluck Wein mühevoll nur ein Stück herunter. Der Bischof bestätigte das Wunderfasten. Die Verwaltung des Wunders konnte beginnen.

Das Abendgeläut steht bevor. Der Sigrist fragt eine junge Spanierin, die sich ehrfürchtig umsah, ob sie mit ihm zusammen am Glockenseil ziehen wolle.

Beziehen sich heute Politiker auf Niklaus von Flüe, dann meist im Zusammenhang mit dem Stanser Verkommnis 1481. Fast wäre damals ein Bürgerkrieg zwischen den Acht Orten der Alten Eidgenossenschaft ausgebrochen. Nach aussen hatte man sich in den Burgunderkriegen als unverbrüchliche und unbesiegbare Einheit bewiesen. Doch als es darum ging, ein politisches Gleichgewicht im Innern zu finden, zeigte sich, wie gross das gegenseitige Misstrauen war. Bei einer Tagsatzung in Stans suchte man einen Kompromiss für die unterschiedlichen Interessen. Die fünftägige Versammlung wurde ergebnislos abgebrochen. In derselben Nacht soll der Pfarrer von Stans, ein Freund von Niklaus, zu ihm in den Ranft geeilt sein, um nach Rat zu fragen.

Mit der Antwort kehrte er am nächsten Morgen zurück, und nach einer Stunde war die Einigung gefunden. Sie stärkte die Loyalität der Orte zueinander und schuf ein Gleichgewicht zwischen Stadt und Land. Der konkrete Ratschlag ist nicht überliefert. Man kann sich aber vorstellen, was ein Ratgeber wie Niklaus, der sich mit politischer Machbarkeit auskannte, dem Frieden zugetan und von Parteien, Seilschaften und deren Interessen unabhängig war, wohl geraten hat. Es ist nicht verwunderlich, dass er von gewissen Kreisen als Retter der Alten und neuen Eidgenossenschaft stilisiert wird und manche ihm sogar die besondere Stellung der heutigen Schweiz in Europa verdanken wollen.

Das Geheimnis von Niklaus von Flüe ist, dass jeder in ihm etwas lesen kann. Die Schrift, mit der Zeitzeugen sein Dasein beschrieben, ist verblasst. Er selbst ist dadurch zum unbeschriebenen Blatt geworden. Betrachten wir es, treten uns unsere eigenen Vorstellungen gestochen scharf entgegen. Wer von Niklaus von Flüe und seinem Wirken spricht, spricht immer auch von sich selbst.

Schatten über dem Ranft

Anhaltender Hunger verändert das Bewusstsein stark. Wenn es zu schlimm wird, fällt man in einen Dämmerschlaf oder eine leichte Ohnmacht. Und man fängt an zu halluzinieren. Auch Epilepsie und manche Formen der Migräne bringen seltsame Visionen hervor. Zacken, Lichtblitze, verstörende Sinneswahrnehmungen und manchmal ein Gefühl, nicht mehr man selbst zu sein. Nach drei Tagen im Ranft wird mir klar, wie durchdringend einsam Niklaus von Flüe gewesen sein muss.

Die Dunkelheit im Tobel, die Kälte im Winter, die ganzen Schatten, vielleicht auch das Ringen nach Gott, erscheinen mir derart bedrückend, dass auch auf der lieblichen Landschaft eine Düsternis liegt. Menschen, die in den Krieg zogen, geplündert und gebrandschatzt haben, tragen an der Seele häufig Schäden davon. Diese zeigen sich in Bildern, die sie im Traum verfolgen, Erinnerungsfetzen, die sie mitten am Tag überfallen. Visionen, die manchmal wiederkehren. Heute nennen wir diese Erscheinungen posttraumatische Belastungsstörung. Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass es sie bereits im Mittelalter gab. Ob auch Bruder Klaus daran litt, kann niemand sagen.

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Ich sitze wieder auf dem Bänklein hinter der Klause. Dieser Ort, der schon von so vielen Augen gesehen, von so vielen Füssen betreten und mit so vielen Gefühlen und Gebeten aufgeladen wurde. Hier, fast in der geografischen Mitte der Schweiz, befindet sich der Einstieg in eine andere Sphäre. Die Sphäre des Glaubens und der Imagination. Die Klause hat Niklaus von Flüe nie betreten. Sie wurde zweihundertsechs Jahre nach seinem Tod an alter Stelle neu gebaut. Es ist eine Inszenierung für Besucher, für Gäste und Pilger.

Das nimmt den Druck raus. Ich muss die Gegenwart von Bruder Klaus hier nicht fühlen. Er hat mit diesem Häuschen nur den Namen gemein. Das einzige, was noch so ist, wie es Niklaus von Flüe tatsächlich erlebt haben könnte, ist der Himmel. Das strahlende Dunkelblau des Hochsommers, die dramatisch von hinten beleuchteten Wolkenbüschel, die der Wind immer wieder über die Bergspitzen bläst.

Das Geschenk der eigenen Stille

Ganz am Ende, am letzten Abend vor meiner Abreise, erfuhr ich dann doch noch etwas in diesem merkwürdigen Häuschen. Als in der Kapelle die Zeit für das Abendgeläut kam, fragte der Sigrist eine junge Spanierin, die sich ehrfürchtig umsah, ob sie mit ihm zusammen am Glockenseil ziehen wolle. Rasch überwand sie ihre Scheu. Heute sei ihr Geburtstag, das sei ein schönes Geschenk. Stürmischer als sonst hallte der helle Ton durchs Tobel, als sie die Glocke bis zum Anschlag zogen.

Später, inzwischen war es kühl in der Schlucht, der Sigrist war zurück in seinem Haus und auch die Spanierin verschwunden, wollte ich ein letztes Mal der Zelle einen Besuch abstatten. Erst als ich schon fast in der holzigen Kammer stand, sah ich die beiden Gestalten, die im Halbdunkel unbeweglich auf der kargen Bank sassen, jede an einem Ende und völlig in sich versunken. Eine ungeheure Konzentration füllte den Raum und hielt mich an der Tür zurück. Die beiden schienen sich hier auszukennen, sie wirkten nicht befangen und waren wohl weder Pilger noch Touristen. Vor allem aber schienen sie, anders als die meisten anderen hier, nicht gekommen zu sein, um etwas von Niklaus von Flüe zu holen.

Einen Gefallen, einen Stempel, einen Eindruck fürs Fotoalbum. Sie sassen da wie zwei Menschen, die gekommen sind, um etwas von sich zu bringen. Ihre Präsenz, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, ihre Kraft, vielleicht auch ihre Müdigkeit, ihre Sehnsucht, ihre Schwere oder ihren Traum. Zwei Menschen, vielleicht Bewohner aus der Umgebung, die still auf diesem Holz sassen, jeder in seinem eigenen Raum, und die sich offenbar der Mühe aussetzten, das Rauschen, das uns innen und aussen ständig umgibt, herunterzudimmen, bis das Hirn schweigt und der Geist sich öffnen kann.

Nicht mit unendlich viel wortreicher Verehrung, Interpretationen, Zugriffen und Beschreibungen bis hinein ins von Flüesche Ehebett. Sondern mit Ruhe, Konzentration und Gegenwärtigkeit. Mit einem Raum für eine andere, vielleicht göttliche Stimme.

Vielleicht war es genau das, wonach sich der Einsiedler am meisten gesehnt hatte, als er in das Tobel zog, weg von der Familie, von der Gemeinde, von der Welt, in der alle ständig nach ihm griffen. Jemandem seine Konzentration und seine ungeteilte Gegenwart mitbringen und einfach mit ihm sitzen. So leise wie möglich ging ich hinaus und machte mich auf den Weg zurück nach Hause. Jemandem die eigene Stille mitzubringen. Während ich durch die Schlucht nach oben stieg, erschien mir das auf einmal als das kostbarste, vortrefflichste Geschenk überhaupt, das man einem anderen machen kann.