Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Freitag, 13. August 2021

Seit meiner Kindheit spiele ich Videospiele. Schon da­mals führten sie mich in Kathedralen, ich sah Kruzifixe und steuerte meine Avatare durch biblisch anmutende Geschichten. Gaming und Gott? Für viele geht das nicht zusammen – dabei sind die Welten der Videospiele längst fest mit religiöser Symbolik verwachsen. Ich kann mich noch gut an das 1995 erschienene Rollenspiel «Terranigma» erinnern. Ich, ein kleiner Junge aus der Provinz, erweckte einen unwirtlichen Planeten wieder zum Leben.

Ich bin durch verdorrte Steppen gerannt auf der Suche nach Wasser. Ich brachte dem Planeten seine Pflanzen zurück, und letztlich siedelten sich Menschen an. Ich half ihnen, dass ihre Städte florierten, und schlichtete, wenn es Streit unter ihnen gab. Ich musste Verantwortung übernehmen für meine Schöpfung. Ich war so etwas wie Gott.

Aufgewachsen bin ich in einer Orgelbaufamilie, meine Eltern erzogen mich katholisch. Obwohl ich nie gläubig war, bin ich dennoch häufig in der Kirche gewesen. Videospiele kamen dort nur dann vor, wenn vor ihnen gewarnt wurde. In Predigten ging es um die gesellschaftliche Verrohung der Jugend – Killerspiele, Computerspielsucht, Einsamkeit. Die Spiele, die mir so viel Spass machten, ich erkannte sie in diesen Predigten nicht wieder. Hatte ich nicht gerade Menschen vor dem Verderben gerettet, mir ethische Fragen gestellt und Verantwortung übernommen? Viele junge Menschen befassen sich in der Gaming-Welt mit religiösen und moralisch anspruchsvollen Themen.

Diese haben es also längst auf ihre Bildschirme geschafft, nur bringen Jugendliche sie nicht mit der analogen Kirche in Verbindung. Ihr Image bleibt bei Heranwachsenden angestaubt, im Zweifel von gestern. Könnten Videospiele also ein Teil der Lösung sein und dem Biederen des Kirchlichen entgegenwirken? Und wenn ja, wo stehen die Kirchen bei diesem Thema gerade, oder verpennen sie hier eine Möglichkeit, Junge zu erreichen? Ich mache mich auf die Suche nach Menschen, die sich in dieser spirituellen Gaming-Welt bewegen, und will wissen, was virtuelle Glaubensräume ihnen geben.

Jeden Sonntag versammeln sich rund 60 Menschen in der «VR-Church».

Fündig werde ich zunächst in der amerikanisch-evangelikalen Ecke. Auf meinem Streifzug durchs Internet stosse ich auf eine Kirche, die sich VR-Church nennt. VR steht für Virtual Reality. Es ist Sonntag, 12 Uhr. Ich starte das Computerprogramm und setzte mir eine VR-Brille auf. Plötzlich bin ich umgeben von anderen Avataren. Ich sehe einen Teich, umrundet von Steinen. Eine Figur steigt in das Wasser hinein. Nach wenigen Minuten ist die Realität zu Hause vergessen. Hinter der Szene am Teich leuchtet nun ein Text auf: «Endlich bin ich bereit, mich für Jesus Christus, meinen Heiland, fallen zu lassen.»

Auf einer Tribüne haben sich mehrere Avatare niedergelassen, hinter all diesen Figuren steckt ein Mensch, der wie ich zu Hause eine VR-Brille trägt und sich doch dort im Geschehen tummelt. Wir sind Teil eines Gottesdienstes, und ich am Teich bin mittendrin im Geschehen: Jemand wird gerade getauft. Auch Markus Neher, alias Pfarrer Bismek, tauft in der VR-Church-Szene. Ihm sei klar, dass er sich nicht Pfarrer nennen könne. Er habe schliesslich kein Theologiestudium und nicht das Vikariat einer Landeskirche absolviert. Die VR-Church stamme aus den Vereinigten Staaten, dort sehe man das lockerer als in der Schweiz oder in Deutschland. Seine religiöse Sozialisation erfolgte über die freikirchliche Gruppe der Jesus Freaks. Ende 2017 habe er einen Artikel gelesen, in dem es um virtuelle Kirchen gegangen sei. Er war neugierig, knüpfte Kontakte. Heute, rund drei Jahre später, leitet er die VR-Church in Europa.

Ein Meer tut sich auf

Um einen virtuellen Gottesdienst von Markus Neher besuchen zu können, erstelle ich mir erneut einen Avatar und trete dem virtuellen Raum bei. Dort sehe ich Neher, der auf eine Bühne steigt und die Avatar-Gemeinde begrüsst. Ein Lobpreis-Lied ertönt, dann beginnt die Predigt. Die Pfarrer gestalten dafür Szenerien, passend zu den Themen der Predigt. Vor meinen Augen tut sich ein Meer auf, darauf schwimmt ein Boot, in das wir Gottesdienstbesucher steigen. An den Seiten des Bootes sind die behandelten Bibelstellen zum Nachlesen gepinnt. Etwa 60 Menschen nehmen teil. Mit mir im Boot sitzen vor allem Amerikaner, aber auch Spanierinnen, Italiener und Engländerinnen.

Aus der Schweiz oder Deutschland treffe ich niemanden. Predigtsprache ist Englisch. In der virtuellen Kirche wird aber nicht nur über den Glauben gesprochen, sondern visualisiert. Vor meinen Augen entstehen Bilder jener Orte, an denen die biblischen Geschichten handeln. Die virtuelle Kirche greift dabei in die Trickkiste der Videospielwelt – Avatare, veränderbare Umgebungen, virtuelle Interaktionsmöglichkeiten –, eine Welt wird sichtbar. Ein klarer Vorteil gegenüber den Predigten meiner Kindheit: Damals konnte ich mir selten ausmalen, wovon der Pfarrer auf der Kanzel spricht.

Das Spiel «Light on Earth» der Reformierten will Kindern die Themen Freundschaft, Achtsamkeit und Gottvertrauen vermitteln.

«In meiner Kindheit wurde in der Kirche vor Video­spielen gewarnt. In der Predigt ging es dann um die Verrohung der Jugend, Killerspiele, Spielsucht und Einsamkeit.» Matthias Kreienbrink

Markus Neher, der «Pfarrer», arbeitet gerade an seiner Doktorarbeit in Philosophie und politischer Theorie. Man merkt Neher an, dass er euphorisiert ist von der neuen Technik und ihren Möglichkeiten. Er könne sich noch gut an einen seiner ersten VR-Gottesdienste erinnern und wie sehr ihn die Predigt zum Thema Schwermut bewegt habe. Ein Deutscher stand in diesem Gottesdienst neben ihm, und sie hätten zusammen ge­betet. Neher sagt, dieser Mensch wäre nie in einen analogen Gottesdienst gegangen. Diese Begegnung, da ist er sich sicher, hätte es nie in der realen Welt gegeben.

 

Ich rufe Micha Steinbrück an. Der 37jährige evangelische Pfarrer ist in der Landeskirche Hannover für die Internetarbeit zuständig. Er sieht in den theologischen Fragen, die durch neue Techniken aufgeworfen werden, viel Nachholbedarf für die Kirchen. Steinbrück bespricht auf dem YouTube-Kanal «Tatsächlich Pastor» christliche Inhalte in Videospielen, etwa bei dem beliebten Spiel «Journey». Hier ist es die Aufgabe der Spieler, die Spitze eines Berges zu erklimmen. Sie können rudimentär mit anderen Spielerinnen auf dem Weg kommunizieren, sich zusammentun auf der Reise zu dem strahlenden Licht hoch oben.

Und wenn sie ihr Ziel endlich erreicht haben, beginnen sie wieder von vorne. Auch ich habe dieses Spiel früher gespielt. Ich erinnere mich, wie ich über rote Dünen geglitten bin, neben mir lief ein anderer Avatar, gemeinsam überquerten wir tiefe Schluchten, durchwanderten Wüsten – um erst im Nachhinein zu verstehen, dass diese Figur, die da stundenlang neben mir herlief, ein anderer Spieler war, ein echter Mensch. Wir konnten nicht miteinander sprechen, und doch schienen wir uns zu verstehen, wir bildeten eine Gemeinschaft. Oben auf dem Berg endete unser Abenteuer.

Ich erinnere mich, wie sehr mich diese virtuelle Reise emotional erschöpfte und wie echt sich alles anfühlte. In Videospielen werden häufig christliche Themen verhandelt, sagt Steinbrück. Zudem sei man in Actionspielen in der Regel ein Erlöser, dessen Reise erst komplett sei, wenn die Allerlösung hergestellt werde. «Dabei geht es sehr oft um die Verhandlung von Transzendenz und um den Sinn der eigenen Taten. Man erleidet Schmerzen auf dem Weg zur Erlösung und riskiert das eigene Ableben für eine grössere Sache», sagt Steinbürck.

Die Verhandlung von Transzendenz kann aber auch sehr viel Profaner aussehen. Im Spiel «Mundaun» besuche ich das gleichnamige Dorf im Kanton Graubünden. Ich steuere den Bündner Curdin, der in seine Heimat zurückkehrt, um dort von seinem Grossvater Abschied zu nehmen. Der ist in bei einem Scheunenfeuer ums Leben gekommen. Eines der ersten Gebäude, das ich in «Mundaun» wahrnehme, ist die Kirche.

Sie steht auf einem Plateau, und der Glockenturm ragt kerzengerade in den Himmel. Da das Game von einem realen Ort inspiriert sei, wo Kapellen und Holzkreuze in der Landschaft omnipräsent seien, hätten diese Elemente auch Eingang in die virtuelle Welt gefunden, erzählt der Spielentwickler Michel Ziegler. Die vielen religiösen Symbole und Geschichten, die in «Mundaun» vorkommen, sind auch auf seine Kindheit zurückzuführen: «Ich bin selber katholisch aufgewachsen, und so habe ich wohl eine gewisse Vertrautheit mit der Materie.» Dennoch sei sein Game keine explizite Aus­einandersetzung mit Religion, beteuert Ziegler.

Raum für das Diabolische

Ich in der Rolle von Curdin merke schnell, dass der Tod des Grossvaters im Spiel kein Unfall ist – und entdecke mysteriöse, übernatürliche Umstände. Hat vielleicht sogar der Teufel seine Hand im Spiel? Religion im Videospiel als Möglichkeit des Erschauderns, als Raum für das Diabolische. Keine Frage: «Mundaun» ist ein gruseliges Spiel. Seinen Horror kreiert es auch mittels religiöser Elemente.

Schon der Pfarrer macht mir ein mulmiges Gefühl. Weiss er mehr, als er zugibt? Und so wird die virtuelle Kirche auf dem Plateau zum wahrhaftigen Symbol für den Glauben, für das Metaphysische und letztlich auch für die Institution Kirche, die die Menschen in Mundaun seit Generationen geformt hat. «Wenn ich an die Schweiz meiner Eltern denke, dann waren das Dinge, die einen hohen Stellenwert hatten», sagt Ziegler. Und auch wenn er mit «Mundaun» nicht das Ziel verfolgte, Religion den Menschen näherzubringen, so ist die Erfahrung derjenigen Spielerinnen, die die religiösen Symbole und Bräuche kennen, wohl eine andere.

Im Schweizer Horrorspiel «Mundaun» ist Religion nicht explizit Thema – und doch überall präsent.

Ganz so wie beim Blockbuster «Cyberpunk 2077». Es kam Ende 2020 in den Handel und kostete geschätzt 135 Millionen Euro in der Entwicklung. In dem Rollenspiel haben Konzerne die Macht auf der Erde übernommen, körperverändernde Techniken versprechen ewiges Leben. Auch in dieser Umgebung treffe ich auf viel christliche Symbolik wie beispielsweise eine neonbeleuchtete Kirche.

Der Entwickler Marcin Blacha erklärt mir das Grundmuster des Spiels: «Menschen in einer dystopischen Welt sind auf der Suche nach spiritueller Hilfe.» Ich spiele mich durch die von Blacha kreierte Welt und stosse dabei auf die Geschichte einer Figur namens Sinnerman. Der verurteilte Mörder möchte ans Kreuz genagelt werden, denn er glaubt, nur so Vergebung für seine Sünden erlangen zu können.

Es liegt bei mir, ob ich ihm bei diesem Vorhaben helfe oder nicht. Ich muss mich auf einmal mit seiner Frage konfrontieren und eine ethische Entscheidung treffen. Anders als im Film schaue ich nicht nur einfach zu, sondern schreite zur Tat. Für die Geschichte um Sinnerman hätten sie natürlich die Bibel zu Rate gezogen, erzählt Entwickler Blacha. Explizit auf den Bezug zur Bibel verweist das Spiel aber nicht. Braucht es vielleicht externe Übersetzer, die den Jugendlichen erklären, was sie in ihrer Freizeit spielen?

«Die Download-Zahlen des Spiels ‹Light on Earth› sind enttäuschend. Wir hatten klar mehr erwartet. Das hat auch mit der Haltung der Religionspädagogen zu tun.» Katja Lehnert, Reformierte Kirche Zürich

Dafür plädiert der Religionswissenschaftler Oliver Steffen. Vor einigen Jahren war er an der Universität Bern mit dem Projekt «Between God Mode and God Mood» betraut, das auch vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde. Seine Doktorarbeit trug den Titel «Level Up Religion». Steffen fragt sich, warum die Kirche nicht stärker versucht, Heranwachsenden die religiösen Bezüge in ihren Spielen zu erläutern. Dabei gehe es nicht darum, sie vom Glauben zu überzeugen, sondern ihnen die grosse Bedeutung des Christentums für die Kultur aufzuzeigen.

«Kinder und Jugendliche glauben ja häufig, in ihrer Lebenswelt tauche Christliches gar nicht auf.» Eine Schwierigkeit ortet Steffen in den Kirchen selbst: «Diejenigen, die solche Bezüge herstellen können, sehen Computerspiele skeptisch oder interessieren sich schlicht nicht dafür. Das ist gerade in der Jugendarbeit eine verpasste Chance.»

Kritisch sieht der Religionswissenschaftler den Einsatz von explizit christlichen Games für die Bildungsvermittlung: «Sie stammen meist aus dem amerikanischen Kulturraum und haben einen freikirchlichen Hintergrund.» Zudem seien viele dieser christlichen Spiele billig produziert, würden vorhandene Spielkonzepte kopieren und christliche Botschaften regelrecht in die Spielmechanik hineinpressen. «Oft führt das dazu, dass die Verkündigung mit Gewalt und Intoleranz einhergeht. An erster Stelle steht der Wettbewerb, Spass oder Schönheit im Spiel sind zweitrangig», sagt Steffen.

Lernspiel für Kinder

Dass Religionspädagogen nicht über das Mindset für Computerspiele verfügen, diese Erfahrung mussten auch die Reformierten des Kantons Zürich machen. Die Landeskirche liess in Zusammenarbeit mit anderen für 180 000 Franken das Spiel «Light on Earth» entwickeln, ein Lernspiel für Kinder im Alter von 10 bis 12 Jahren, das den Wert von Freundschaft und Achtsamkeit zum Thema hat.

Das Spiel läuft auf dem Handy oder Tablet. Dabei steuere ich den Hauptprotagonisten Kim durch drei Level. In jedem treffe ich eine Freundin oder einen Freund. Da ist zum Beispiel Anna : Sie hat nur noch Augen für ihr Handy. Die Landschaft, durch die sie spaziert, nimmt sie nicht mehr wahr. Meine Auf­gabe ist es, ihr die Schönheit der Natur zu zeigen. Ich lasse also den Wind über einen Haufen Blätter wehen, darunter kommen Blumen zum Vorschein. Meine Aufgabe ist es, Anna so oft wie möglich vom Handy abzulenken.

Die Religionspädagogin Katja Lehnert war an der Konzeption des Spiels beteiligt. Am Telefon erklärt sie, dass man ein kostenloses Spiel entwickeln wollte, das im Religionsunterricht zum Einsatz kommt und nicht von den Kindern in der Freizeit heruntergeladen wird. Die Zielgruppe waren also Religions­pädagogen. Zweieinhalb Jahre nach der Lancierung des Spiels ist Lehnert ernüchtert: «Es scheint eine Scheu zu bestehen, das Spiel einzusetzen.» Bisher wurde «Light on Earth» 2500 Mal heruntergeladen. Nicht eruieren lässt sich, wie oft das Spiel im Unterricht zum Einsatz kam. «Die Zahlen sind enttäuschend. Wir hatten uns klar mehr versprochen», sagt Lehnert.

Wenig Interesse

An mangelndem Engagement der Initiatoren kann es nicht liegen: Es wurden umfangreiche Broschüren mit Ideen für den Unterricht ausgearbeitet. Lehnert glaubt die Gründe für das Desinteresse zu kennen: «Bei vielen Pädagogen herrscht die Meinung vor, dass man Kinder eher vor dem Handy schützen muss, als sie auch noch im Unterricht dazu zu bringen, auf den Bildschirm zu starren.» Sie macht aber auch mangelndes Interesse geltend: «Manche Pädagoginnen verfügen nicht einmal über ein Handy, auf dem das Spiel läuft.»

Die Vorurteile der Kirche aus meiner Kindheit, dass Games gefährlich seien, sind auch heute noch nicht ausgeräumt. Selbst bei so einem harmlosen Spiel wie «Light on Earth», das als Unterrichtsinstrument konzipiert wurde. Ich bin mir sicher, dass mich als Kind «Light on Earth» interessiert hätte – allein durch den Umstand, dass ich hier Wissen und ein Lebensgefühl mit einem Medium vermittelt bekommen soll, das mir so vertraut ist.

Ich habe in den vergangenen Tagen einen VR-Gottesdienst erlebt und eine spirituelle Reise auf einen Berg unternommen. Und ich war dabei, als eine Computerfigur ans Kreuz genagelt wurde. Das ist deutlich mehr, als ich im realen Leben mit der Kirche in den letzten Jahren erlebt habe.