Es ist einer dieser wechselhaften Spätsommertage in der Surselva, an dem die Rheinschlucht ihre gesamte Palette atmosphärischer Stimmungen aufbietet. Regen, Schauer, Licht, Schatten. Ein uraltes Drama, das sich den Bahnreisenden präsentiert, die sich von Chur her durch die Ruinaulta bewegen, wie die Einheimischen sie nennen. Vor zehntausend Jahren, vielleicht an einem unwirtlichen Tag wie heute, schuf ein Felssturz die kilometerlangen Geröllfelder. Als die Steinmassen fielen, gehorchten sie nur dem Willen der Schwerkraft. Das Ereignis veränderte die Topografie für immer.
Kurz vor Ilanz erweitert sich die Schlucht wieder zu einem Tal. Im Herzen der Altstadt wartet Maria Wüthrich in ihrem Büro im Gemeindehaus. Ein angedeutetes Lächeln; der Handschlag der 64jährigen Pfarrerin ist kurz und solid. Ihr Büro hat sie mit hellen Möbeln eingerichtet. Bücherregale, Ordner, ein Pult, ein runder Tisch, um Besucher zu empfangen. Kaum Unnützes, alles am richtigen Ort.
Maria Wüthrich hat sich gut eingelebt, sagt sie. 600 Reformierte zähle ihre Gemeinde, die grösste in der Surselva, ein geschichtsträchtiger Ort. Sachkundig erläutert sie die Ilanzer Streitgespräche, die die Bündner Reformation in Gang brachten. Während sie redet, schweift ihr Blick über die Gegenstände im Raum, nur ab und an sucht sie Augenkontakt. Unsicherheit ist es eher nicht. Vom Predigtenschreiben, von den Taufen und Beerdigungen, den Besuchen im Altersheim und dem monatlichen Gottesdienst im Krankenhaus ennet am Rhein erzählt sie mit einer gewissen Beiläufigkeit, so, als wolle sie die viele Arbeit herunterspielen. Dabei ist es ihr erstes Pfarramt. Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren trat sie es an.
Auch in Maria Wüthrichs Geschichte gibt es ein Ereignis von der Wucht eines Felssturzes, das ihr Leben in ein Davor und ein Danach zerteilte: Vor zehn Jahren entschied sich die gebürtige Berner Oberländerin, Theologie zu studieren. Wenn sie davon spricht, findet sie starke Worte. Sie nennt es auch ihre «Berufung»: «Ich wollte im Grunde immer schon Theologie studieren. Ich wusste einfach, dass es nicht geht.»
Arbeit und Gebet
Wüthrich stammt aus einer Handwerkerfamilie in Steffisburg bei Thun. Der Vater war Zimmermann, die Mutter Hausfrau. Sie war das erste von zwölf Kindern: «Ich half der Mutter, wo es nur ging.» Maria Wüthrich schildert eine arbeitsame und fromme Kindheit, die sich wie ein protestantisches Erbauungsstück aus einer fernen Zeit anhört: Am Sonntagmorgen besuchte die Familie den reformierten Gottesdienst, am Nachmittag die Hauskreise der pietistischen evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern. Dort predigte man die «innere Mission». Es ging darum, auch die Landeskirche für Frömmigkeit und ein gottgefälliges Leben zu gewinnen. Dies bedingte die Nähe zu den Reformierten: Alle Kinder wurden als Kleinkinder getauft und später konfirmiert.
«Ich liebte die Sonntagsschule und das Spiel auf dem Harmonium», sagt Wüthrich. Die Familie sang aus geistlichen Gesangbüchern, erst zweistimmig, später, als die ersten Brüder den Stimmbruch bekamen, drei- und vierstimmig. «Nach dem Nachtessen blieb das Geschirr zuerst einmal auf dem Tisch, und wir haben gesungen.» Schon als Teenager begann sie auch, in der örtlichen Kirchgemeinde die Orgel zu spielen. Heute vermisse sie es. «Ich kann ja nicht gleichzeitig predigen und orgelen», sagt sie
Und da war diese zweite grosse Leidenschaft, das Lesen. Doch dafür blieb der jungen Maria neben dem Wäschezusammenlegen, Gemüserüsten und Geschwisterhüten kaum Zeit: «Zweimal hatte ich Leseverbot. Nur die Bibel, die war dann noch erlaubt.»
Der Vater hatte ihr seine Konfbibel geschenkt. Passagen, die sie besonders mochte, markierte sie am Rand mit einem handgezeichneten Blümchen.
Da ist etwas Unergründliches in Maria Wüthrichs Blick und ihren Gesten, wenn sie erzählt. Woher diese Kraft kommt, wisse sie selber nicht, sagt sie.
«Geschadet hat uns das viele Helfen und die strenge Erziehung nicht», sagt Maria Wüthrich. Sie steht auf und macht Licht. Starker Regen hat eingesetzt und verdunkelt das Zimmer.
«Und doch», meint sie, als sie sich wieder setzt, eine Sache habe sie als junges Mädchen schon geplagt: «Was wäre ich gerne ins Latein gegangen!» Sie sei eine wissbegierige Schülerin gewesen, sei gern in die Schule gegangen.
Sie träumte davon, eine höhere Ausbildung zu machen, eines Tages die Bibel zu studieren, mehr von diesen Geschichten zu wissen: «Wie war das, als die Leute der Bibel lebten? Wer hat die biblische Botschaft weitergetragen, und wie ist das gegangen? Eigentlich war das ja schon Theologie.» Dass sie gerne in den Gymer gegangen wäre und studiert hätte, Theologin werden wollte, sagte sie niemandem.
Als Maria mit 16 die obligatorische Schule hinter sich hatte, tauchten andere Lebensziele am Horizont auf. Nach Au-pair-Jahren im Welschen und im Tessin besuchte sie die Krankenschwesterschule im Salemspital in Bern, und über eine Mitbewohnerin lernte sie ihren heutigen Mann, einen Tiefbauingenieur aus dem Baselbiet, kennen. Das Paar führte ein Leben, wie es viele Eheleute damals taten: Sie sangen zusammen im Chor, er bekam eine gute Stelle in einem Ingenieurbüro, sie arbeitete weiter im Spital und Teilzeit als Organistin. Zu ihrem gemeinsamen Lebensplan fehlte nur eines: «Wir hätten gerne Kinder gehabt.» Irgendwann kündigte Maria Wüthrich ihre Stelle als Krankenschwester und begann, tageweise Pflegekinder zu betreuen.
Zehn Jahre lebte das Paar in Bern. Dann wurden die Schwiegereltern, die einen Bauernbetrieb im Laufental führten, alt. Jemand musste zum Hof und zu ihnen schauen. Maria und ihr Mann zögerten. Sollten sie das Leben in der Stadt aufgeben, die Pflegekinder zurücklassen, das Leben der Eltern weiterführen?
«Es war viel. Heitere Fahne!»
«Wir gaben uns ein Jahr Probezeit.» Danach entschieden sie zu bleiben, übernahmen den Hof und kümmerten sich um die Alten. Daneben begann Wüthrich wieder zu orgeln, erst nur für die Reformierten, bald auch in katholischen Gemeinden im Umland. Und dann, als sei dies alles nicht schon genug, kamen auch hier bald Pflegekinder dazu. Zum ersten Kind kamen 1986 zwei Buben, 1989 zwei Mädchen und 1991 zwei kleine Buben. Immer noch eins und noch eins.
Es sei schon «es bitzeli viel» gewesen, meint Maria Wüthrich rückblickend. Dann stellt sie richtig: «Es war viel. Heitere Fahne! Wenn wir Besuch hatten und uns zum Schwatzen hinsetzten, lismete ich, um nicht einzuschlafen.» Maria Wüthrich spricht schnell. An ihrem Berndeutsch ist nichts Behäbiges, so als gelte es auch beim Reden keine Zeit zu verlieren vor lauter Dingen, die es zu erledigen gebe. So viel Arbeit. Schon vom Zuhören wird man müde. Da ist etwas Unergründliches in ihrem Blick und ihren Gesten, wie sie so erzählt. Woher diese Kraft kommt, wisse sie selber nicht, sagt sie.
Am Ende waren es elf Kinder, die im Laufe von zwanzig Jahren bei den Wüthrichs über kürzere oder längere Zeit in Pflege lebten, genauso viele, wie Maria damals, als Kind, Geschwister hatte. Diese totale Wiederholung, sagt sie, sei ihr erst viel später aufgefallen.
Draussen findet ein Sonnenstrahl eine Lücke in der Wolkendecke und bringt die Altstadtdächer zum Leuchten. Das plötzliche Licht holt die Gegenwart zurück. Das heutige Leben von Maria Wüthrich als Pfarrerin von Ilanz, die hier in der Surselva predigt, tauft, verheiratet und beerdigt, will so gar nicht zu der Bäuerin, zigfachen Pflegemutter und Organistin passen. Da ist zwar noch dieselbe Unermüdlichkeit. Doch fehlt Maria Wüthrichs Geschichte eine weitere Wendung, die sie auf diesen Weg brachte. Ihren eigenen Weg. Ein Ereignis, das sie selbst als «Berufungserlebnis» bezeichnet.
Als Maria Wüthrich fünfzig wurde und ihre Pflegekinder aus dem Gröbsten raus waren, spürte sie, dass sie jetzt «etwas mit dem Kopf machen» wollte. Es sei die Zeit gekommen, sich «endlich wieder über Bücher zu beugen». Sie liess sich, auf Anraten einer Bekannten, zur Logotherapeutin ausbilden: «Ich lernte da in der Theorie, was ich die zwanzig Jahre zuvor in der Praxis sowieso getan hatte», meint sie dazu. Die Ausbildung sei eine gute gewesen, beteuert sie, erfüllt hätte sie sie aber nicht. Aber vielleicht, fährt sie fort, sei die Sache doch nicht ganz «lätz» gewesen, denn ihre Diplomarbeit schrieb sie über pflegende Angehörige: «Mir wurde erst während des Schreibens bewusst: Eigentlich geht es exakt um mich.»
Ein tiefer Groll
Und so begann also ihre Auseinandersetzung mit sich selbst. Endlich. Es war vielleicht die erste, zu der sie in ihrem Leben Zeit fand. Und da war auch dieses Zitat, das sie in einem Lehrbuch für ihre Diplomarbeit fand, es habe sie nicht losgelassen. Maria Wüthrich steht wieder auf, greift ins Bücherregal, liest aus dem Vorwort: «In jedem lebt ein Bild, des der er werden soll. Solange er das nicht ist, ist nicht sein Frieden voll.»
Das Zitat stammt vom Mystiker Angelus Silesius: «Als ich das las, überkam mich ein Ärger. Über den Autor des Lehrbuchs. Wie kann da ein Wissenschaftler dieses Zitat bringen, einer, der in seinem Leben immer alles machen konnte, was er wollte. Das machte mich richtig wütig.»
So sei sie an einem Morgen mit ihrem Mann allein in der Küche gewesen und habe gebrütet, es sei ein Groll in ihr gewesen. Ihr Mann habe das gespürt, er habe sich aber dumm gestellt. Was denn sei, habe er gefragt, bis sie so wütend war, dass sie mit der Faust auf die Küchenkombination schlug und es aus ihr herausbrach: «Alle können immer machen, was sie wollen. Nur ich kann das nicht!»
Er habe sich weiter naiv gegeben. Ja, was willst du denn, sag es mir. Und da sei es aus ihr herausgeplatzt: «Theologie studieren, das will ich!» Maria Wüthrich holt kurz Luft, sie hat beim Erzählen das Atmen vergessen. Wie die Stimme eines Tieres sei es gewesen. «Es hat mich innerlich durchgeschüttelt. So richtig.» Da habe ihr Mann sie ruhig angeschaut und gemeint: «Dann sehen wir eben zu, dass du das machen kannst.»
Als es endlich raus war, war sie nicht mehr dieselbe. Oder vielleicht erst richtig.
Von da an ging es schnell. «Es war, als ob sich eins zum anderen fügt. Alle Hürden verschwanden», sagt Wüthrich. Sie suchte nach einer Universität, an der sie ohne Matur zugelassen war. «Was hatte ich Freude, als ich an der Uni Fribourg in das entsprechende Programm für über 30jährige angenommen wurde.» 2007, mit 54 Jahren, sass sie in der ersten Vorlesung: «Die Umwelt des alten Testaments. Ich liebte es.»
Klar, das Lernen sei anstrengend gewesen, sie sei es nicht gewohnt gewesen, sei beim erstenmal durch manche Prüfung geflogen. In den Badeferien habe sie Lernkärtchen mit an den Strand genommen, erinnert sie sich. Sie steht ein weiteres Mal auf, kramt nach dem Latein-Voki-Buch, das in den Hosensack passt. Endlich das Latein, das sie immer lernen wollte: «Auswendiglernen war nahrhaft. Aber es war etwas, das ich nur für mich tat. Ich empfand es als Privileg.» Also kniete sie sich hinein und schaffte das Studium in sieben Jahren. Ihr wurde dabei klar, dass sie Pfarrerin werden wollte. Das Vikariat machte sie im Laufental. Ihr Mann hielt ihr in all der Zeit den Rücken frei. Als es so weit war und Maria Wüthrich ihr Pfarramt in Ilanz übernahm, verkaufte er den Hof und folgte ihr.
Maria Wüthrich war eine der ersten unter den Vikaren ihres Jahrgangs, die eine Stelle fand. Ihr Pfarramt trat sie einen Tag nach dem Ende ihrer Ausbildung an. Ohne einen Tag Ferien einzulegen, ohne einen Tag zu ruhen. Doch jetzt macht sie beim Erzählen eine Pause. Die Geschichte ist im Hier und Heute angelangt. Mittlerweile haben sich auch die letzten Wolken verzogen. Eigentlich wäre sie seit diesem Jahr pensioniert. Doch an Ruhestand mag sie noch nicht denken: «Ich habe ja erst angefangen.» Wenn die Synode zustimmt, will sie einige Zeit weitermachen.
Nun blickt sie auf die Uhr. Sie komme noch ein bisschen mit in Richtung Bahnhof. Sie möchte das hohe Wasser des Rheins sehen. Es sei eigentlich das Traurigste, meint sie zum Abschied, wenn jemand nicht seine Begabungen und Wünsche aus sich herausholen könne. Sie habe vor kurzem alte Fotografien der Familie ihres Mannes geordnet. Einer seiner Vorfahren sei sehr begabt im Zeichnen gewesen. Doch die Eltern hätten nicht zugelassen, dass er seinen Weg gehe. Er sei in der Psychiatrie gelandet. «Es macht dich krank, wenn du deinem Ruf nicht folgst.»
Bei ihr dauerte es mehr als ein halbes Leben. Aber als es so weit war, ereilte ihre Berufung sie wie ein Felssturz. Maria Wüthrich verabschiedet sich und läuft in Richtung Fluss. Der Rhein ist zu einem trüben Strom angeschwollen, der ganze Baumstrünke und Äste mit sich treibt.