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Freitag, 29. Juli 2016

Meine Mutter lachte laut heraus, als ich ihr von meiner bevorstehenden ersten Reise nach Taizé erzählte. «Du und Taizé?!» Eine berechtigte Frage. Ich, 31, verheiratet, reformierter Theologe und demnächst Vikar in einer reformierten Kirchgemeinde, bin eher ein nüchterner Kopfmensch. Zumindest darin verkörpere ich das Klischee eines typischen Reformierten.

Das gefühlsbetonte Taizé, Sitz des gleichnamigen ökumenischen Männerordens, gehört folglich nicht zu meinen Traumdestinationen. Von aussen betrachtet hat die Communauté für mich etwas von religiöser Wellness mit Option zur Weltflucht: Man trifft sich mit Gleichgesinnten und versinkt in der Abgeschiedenheit des malerischen Burgund in jenen meditativen Gesängen, für die der Ort so berühmt ist.

Dabei wurde der Orden von einem bodenständigen Schweizer gegründet. 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg, machte sich der protestantische Theologiestudent Roger Schutz mit dem Fahrrad auf, um einen Ort der Versöhnung von Konfessionen und Kulturen ins Leben zu rufen. In dem kleinen Dorf Taizé wurde der 25jährige fündig. Eine alte Dorfbewohnerin bat ihn zu bleiben.

Frère Roger, wie er sich später nannte, deutete das als Zeichen. Er kaufte das verfallene Herrenhaus auf dem Dorfhügel, obwohl ihm der Notar davon abriet. Heute leben rund 70 Brüder aus fast 30 Ländern und diversen Konfessionen in der Anlage. Jährlich werden sie von Zehntausenden Menschen, vor allem von Jugendlichen, besucht – hier im Burgund oder an einem der weltweit stattfindenden Jugendtreffen. Sie kommen, um gemeinsam zu singen, zu beten und Ewigkeiten still dazusitzen – und sind begeistert. Ich habe keine Ahnung, wieso.

Trotz warmem Licht: Das Gebetshaus in Taizé hat den Charme einer in die Jahre gekommenen Messehalle.

Und jetzt bin ich also hier, ein Reformierter in Taizé. Vier Tage lang will ich in den Alltag der Communauté eintauchen, mitsingen, mitbeten und mitschweigen. Das macht mich zum Pilger. Papst Johannes Paul  II. sagte einmal: «Man kommt nach Taizé wie an den Rand einer Quelle. Der Reisende hält an, löscht seinen Durst und setzt den Weg fort.» Bis jetzt wirkt diese Quelle noch nicht sehr verlockend auf mich. Vielmehr denke ich: In was bin ich da hineingeraten?

Die Ankunft: Donnerstag

Hunderte Menschen scharen sich auf dem Teppichboden und den Seitentreppen im Halbdunkel der Kirche, die zur Hochsaison bis zu 5000 Menschen fasst. In der mit Buchsbaumhecken abgetrennten Mitte sitzen Mönche in weissen Kutten. Alle blicken zur Apsis, die mit ihren orangefarbenen Segeln und unzähligen Kerzen den menschenleeren Mittelpunkt des Raums bildet. Jugendliche gehen mit weissen Schildern auf und ab. Darauf steht nur ein Wort: Silence. Alle hier sind in Gebete versunken. Kirchenglocken läuten. Als sie verstummen, stimmt die Menge ein Halleluja an. Das Abendgebet von Taizé hat begonnen. Ich versuche in Stimmung zu kommen. Klappt natürlich nicht auf Kommando. Die sich endlos wiederholenden, katholisch und orthodox anmutenden Lieder übersteigen meine gesanglichen Fähigkeiten bei weitem.

Erlöse mich von mir selbst

Manchmal gibt es nichts Schöneres, als Abstand von sich selbst...

Januar 2020
Tobias Haberl
Florian Generotzky

Die Gebete werden in unterschiedlichen Sprachen gesprochen. Von Deutsch bis Chinesisch ist für jeden etwas dabei. Es folgt eine Lesung, dann die berühmte Stille. Zehn Minuten, während denen ich mich die ganze Zeit frage, ob ich wohl genügend warme Kleider eingepackt habe. Das Südburgund zeigt sich momentan nicht von seiner Sonnenseite. Nach weiteren Liedern in gefühlter Endlosschleife ist die Gebetsstunde vorbei. Jedenfalls für mich. Viele bleiben noch in der Kirche, um zu beten, zu singen oder mit einem der Brüder zu sprechen. Nicht selten dauern die Gebete bis spät in die Nacht hinein.

In der Casa, dem örtlichen Check-in, bekomme ich zu später Stunde noch so etwas wie ein Abendessen. Ein Stück Brot, Reissalat aus einem verschweissten Beutel und Wasser aus einer Plastikschale. Von meinem Luxusleben kann ich mich hier wohl verabschieden.

Ein hochgewachsener, hagerer Mann in einem mindestens zwei Nummern zu grossen Pulli betritt den Raum. Er ist mir bereits im Bus nach Taizé aufgefallen. Sofort erhält er vom Empfangsteam ebenfalls eine Portion Reissalat und wird dann zielsicher an meine Bank gelotst. Na toll, denke ich, Privatsphäre kennen die hier wohl nicht. Und ziemlich gesprächig ist der Mann auch nicht. Irgendwann kriege ich raus, dass er Pole ist und Wojciech heisst. Er sei schon eine Weile unterwegs, habe sich einige Orte in Europa angeschaut. Nach Taizé kommt er bereits seit den 90ern regelmässig. Was ihn an diesem Ort denn so fasziniere, will ich wissen. «Die Stille», sagt er. Als läge das auf der Hand.

Jugend forscht: Taizé gilt auch als christliche Kontaktbörse.

Nach dem späten Dinner mache ich mich auf den Weg ins Bett. Der Tag war lang, und ich muss sowohl das Abendgebet als auch den Reissalat erst einmal verdauen. Untergebracht bin ich in der 1965 erbauten Krankenstation namens El Abiodh, die über einige Gästezimmer verfügt. Üblicherweise schlafen Pilger in einer der Baracken, die sie mit anderen Gästen teilen. Oder im selbst mitgebrachten Zelt. Ich werde mich jedoch hüten, mich über dieses Journalistenprivileg zu beschweren.

Im 1,90 Meter langen und folglich für mich viel zu kurzen Bett denke ich darüber nach, was Wojciech gesagt hat. Stille. Ist es so einfach? Kommen wir wirklich erst zur Ruhe, wenn wir uns irgendwo in der französischen Pampa fernab aller zivilisatorischen Errungenschaften niederlassen, um zu schweigen? Ist unsere Welt so laut, dass wir uns selbst nicht mehr hören können? Die Frage beschäftigt mich so sehr, dass an Schlaf erst einmal nicht zu denken ist.

Gegen den Rhythmus: Freitag

Der Tag beginnt um viertel nach acht mit dem Morgengebet. Wach bin ich allerdings bereits seit fünf Uhr, was einer Kombination aus zu hartem Bett, zu tiefer Temperatur und zu zwitschernden Schwalben geschuldet ist. Das gibt mir etwas Zeit, das Tagesprogramm zu studieren, das ich gestern abend am Empfang erhalten habe. Bei der Sichtung löst sich die Hoffnung auf die allseits verheissene Stille in Luft auf. Der Tag ist rappelvoll: Morgengebet, Frühstück, Bibeleinführung, Mittagsgebet, Mittagessen, Gesangsstunden, Bibelgespräche, Abendessen und Abendgebet. Mit der Wellness habe ich mich ordentlich getäuscht. Und mitarbeiten soll ich ja auch noch. Wer nach Taizé kommt, muss sich an den anfallenden Arbeiten beteiligen und ein «Ämtli» übernehmen. Ich wurde dem abendlichen Abwaschteam zugeteilt.

Die eigentlich viel zu kurze Stille im Morgengebet verbringe ich dank einer durchgedachten Nacht im Halbschlaf. Anschliessend geht’s zum Frühstück für Erwachsene. Mit Ausnahme der Gebetsstunden sind die Erwachsenen von den Jugendlichen getrennt. Aus praktischen Gründen, wie mir Frère Richard, ein Schweizer Bruder der Gemeinschaft, später erklärt. Die Erwachsenen würden in den Gesprächsgruppen zu dominant, so dass die Jugendlichen bald nichts mehr sagten.

In einem weissen Zelt reihen sich zwei Schlangen vor zwei hölzernen Tischen. Dort walten einige Pilger ihres «Ämtlis» und verteilen Brot und Butter aus grossen Plastikboxen. Konfitüre ist schon alle. Zum Brotstreichen gibt es einen Löffel, zum Trinken heisses Wasser, das man nach Belieben mit Tee-, Kaffee-, Schokoladen- oder Milchpulver anreichern kann. Tische gibt’s fast keine, dafür unzählige Holzbänke. Das Frühstück erweist sich als echte Herausforderung. Die Bank wackelt, und so giesse ich mir die Brühe, die eine heisse Schokolade sein sollte, über die Finger. Wenigstens war das mit dem Heiss ein leeres Versprechen. Und auch beim Butterstreichen mit Löffel bekommen meine Finger definitiv mehr ab als mein Brötchen.

Auf einer Wand in Taizé: Botschaft der Liebe, gereinigt.

Im selben Zelt geht’s anschliessend an die Bibeleinführung. Rasch werden die Bänke von allen gemeinsam zu einer kleinen Bühne hin ausgerichtet. Dort nimmt Frère Pedro Platz. Links und rechts von ihm übersetzen zwei Helferinnen simultan seine englischen Ausführungen in Französisch und Deutsch. Der Mann hat einen wunderbaren spanischen Akzent. Er sieht auch blendend aus. Würde er nicht ein Leben als Bruder führen, er ginge glatt als leicht gealterter Don Juan durch. Frère Pedro spricht darüber, Verantwortung in der Welt zu übernehmen.

Mir wird klar: Die Flüchtlingsfrage hat auch Taizé erreicht. Jesus Christus sei auf der Seite der Vertriebenen und Flüchtigen. In ihm zeige sich ein Gott der Barmherzigkeit, aber auch der Einfachheit. Das Streben nach Besitz, Wissenschaft und Technologien sieht Pedro eher kritisch. Das erinnert mich an einen Vers aus dem Lukasevangelium, den einer der Brüder im Abendgebet beim gestrigen Magnifikat gesprochen hat: «Die Hungernden beschenkt Gott mit seinen Gaben. Die Reichen lässt er leer ausgehen.»

Ist es wirklich so einfach? Hier die gute Armut, dort der böse Besitz? Es stimmt, Gier ist im Umgang mit Wissenschaft und modernen Technologien ein schlechter Ratgeber. Im Zweifelsfall werfe man einen Blick auf die Klimaerwärmung mit ihren verheerenden Folgen für Millionen von Menschen – ein Ergebnis unseres ständigen Strebens nach mehr. Aber Besitz zu haben heisst auch, ihn teilen zu können. Und selbst moderne Technologien haben schon vielen Menschen geholfen.

Ich blicke auf die Barmherzigkeitsikone, die hinter Frère Pedro an der Zeltwand angebracht ist. Die 2015 eigens angefertigte Ikone erzählt in sechs Bildern die biblische Geschichte des barmherzigen Samariters. Der kümmert sich um einen Verletzten, den andere wortwörtlich links liegen lassen. «Ein konkretes Beispiel gelebter Solidarität», wie ich einem meiner Taizé-Führer entnehme. Allerdings hat der Samariter Geld dabei. Das braucht er auch. Denn als er den Verletzten einem Wirt zur Pflege übergibt, muss er diesen bezahlen. Nicht der Besitz an sich ist falsch, sondern unser Umgang mit ihm.

Frère Pedro spricht für mein Gefühl etwas zu zuversichtlich von der Zuwendung zu den Ärmsten, vom Teilen und vom einfachen Leben in Gemeinschaft. Er hat mit allem recht. Aber wie soll das möglich sein? Diese Welt beherbergt nicht nur Heilige und Rechtschaffene, sondern auch Populisten, Diktatoren und Terroristen. Vielleicht bin ich auch zu pessimistisch – oder zu müde.

Langsam möchte ich schon gerne wissen, wo man denn hier diese berühmte Stille haben kann. Wo ich auch hingehe, überall bin ich unter Menschen. In der Schweiz fühle ich mich schon leicht bedrängt, wenn sich im Zug im Viererabteil ein Fremder zu mir setzt. Und hier sitzt man eigentlich permanent Schulter an Schulter. Dabei ist im Moment Flaute, was die Zahl der Gäste angeht.

Ich bin noch nicht einmal 24 Stunden hier, und schon fühle ich mich eingepfercht in diesen Tagesrhythmus, den andere so heiss lieben. Selbst den Snackautomaten beim sortimentsarmen Shop wurden Ruhezeiten verordnet. Alles ist den Gebetsstunden und Bibelarbeiten untergeordnet. Ich beschliesse, mich auszuklinken und mir ein stilles Plätzchen zu suchen.

Noch ist das Zelt fast leer. Bereits in wenigen Tagen werden hier aber Hunderte von Jugendlichen aus der gesamten Welt eintreffen.

Beim Spaziergang durch die der Dorfstrasse entlanggezogene Anlage begegne ich einigen Jugendlichen. Manche singen, andere sind mit Besen bestückt auf dem Weg zu ihrem Putzdienst, und wieder andere unterhalten sich einfach nur angeregt. Es wird geflirtet, was das Zeug hält. Taizé, die christliche Kontaktbörse. So manches eingeritzte Herz an Bäumen, Bänken und Wänden bestätigt diesen Eindruck. Keine Frage, hier werden Freundschaften fürs Leben geschlossen. Die Stimmung hat etwas von einem gezähmten Woodstock – Harmonie und Liebe.

Hier und da schnappe ich einige Gesprächsfetzen auf. Da ist der Teenager, der seinen Freunden erzählt, er habe gestern nach dem Abendgebet über eine Stunde gewartet, um mit dem Frère seines Vertrauens zu sprechen. Oder die beiden Mädchen, die sich über Sex vor der Ehe unterhalten. Wie ist das zu regeln, wenn einer von beiden die Sache etwas anders sieht? Oder das Mädchen, das meint, dass Vergebung nicht so einfach sei: «Könnte ich dem Mörder meiner Mutter vergeben?» Die Jugendlichen sind bei allem Spass durchaus ernsthaft bei der Sache. Und: Sie sind kritisch. Das freut mich ungemein.

Ich passiere den hölzernen Glockenturm am Eingang der Communauté in Richtung Dorf. Nach rund 200 Metern stehe ich vor der kleinen romanischen Dorfkirche. Bevor Frère Roger hierherkam, war sie unbenutzt. Einen Priester gab es nicht. Die kleine und zunächst rein reformierte Bruderschaft, die sich bald um ihren Prior sammelte, bat 1945 um Erlaubnis, hier ihre Gebete halten zu dürfen. Doch das akatholische Treiben missfiel dem damals zuständigen Diözesanbischof. Erst drei Jahre später, im März 1948, konnte man sich einigen und die Dorfkirche zum offiziellen Gebetsraum der Gemeinschaft werden.

Links von der Kirchentür, entlang einer Steinmauer, befinden sich die Gräber der verstorbenen Brüder. Ein schlichtes Holzkreuz hebt sie von den restlichen Ruhestätten ab. Das äusserste Grab ist jenes von Frère Roger. Am 16. August 2005 wurde der charismatische Gründer während des Abendgebets von einer Frau mit psychischen Problemen niedergestochen. Ein Ereignis, das allem Anschein zum Trotz Zweifel bei einigen Brüdern weckte. Auch wenn der plötzliche Tod Rogers nicht der einzige Grund gewesen sein dürfte, verliessen danach einige Brüder die Gemeinschaft. Anders als der Übervater, der bis heute auf dem Hügel allgegenwärtig ist. Vor seinem Grab sitzt ein junges Paar. Beide beten.

Ein muffiger Geruch liegt in der Luft und auf dem Boden jener Teppich, der auch in der Versöhnungskirche ausliegt.

Als ich die Kirche betrete, zähle ich eine Handvoll Leute, die auf einfachen Bänken an der Wand im Gebet versunken sind. Ein muffiger Geruch liegt in der Luft und auf dem Boden jener Teppich, der auch in der Versöhnungskirche ausliegt. Der Raum ist nur schwach beleuchtet, und die Augen müssen sich an die Finsternis erst einmal gewöhnen. Links vom Altar steht eine Marienikone.

Ich setze mich hin und lasse die Stille wirken. Die ist allerdings nicht von Dauer. Als wäre soeben ein Bus voller Touristen vorgefahren, betritt im Dreiminutentakt jemand das Kirchlein. Dabei bleiben die Besucher nur gerade so lange sitzen wie nötig, um zuhause wohl erzählen zu können, wie wunderschön und sagenhaft still die Dorfkirche doch sei. Tourismus gibt es auch in Taizé. Es ist ein Kommen und Gehen. Ich entschliesse mich zu gehen.

Draussen vor der Kirche fährt gerade Helmut mit dem Rad vor. Helmut ist pensioniert und kommt aus Deutschland. Ganz offensichtlich ist er fitter, als ich es je sein werde. Mit dem Fahrrad pilgert er mutterseelenallein auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Drei Wochen hat er schon hinter sich. Warum er das tue, will ich voller Bewunderung wissen. «Um den Kopf frei zu kriegen», antwortet er, «und um meine Spiritualität zu pflegen.» Ich bin beeindruckt. Selbst heute, wo jedes Geheimnis durch die Wissenschaft entzaubert zu sein scheint, scheuen Menschen keine Mühen, um ihrem eigenen und dem göttlichen Geist näher zu kommen.

Nach dem Mittagsgebet und dem anschliessenden Essen treffe ich mich mit der Gesprächsgruppe, der ich zugeteilt wurde. Hier begegne ich auch wieder Wojciech, dem wortkargen Polen. Hinzu kommen einige Damen aus Deutschland und ein Ehepaar aus den Niederlanden. Gert und Tineke. Die beiden sind mir mit ihrer aufgeschlossenen und herzlichen Art auf Anhieb sympathisch. Aus Rücksicht auf Wojciech und die beiden Niederländer sprechen wir englisch. Alle sind Taizé-Veteranen. Und von allen bekomme ich dieselben Gründe dafür genannt, die ich sonst auch überall höre: die Stille, die Lieder und der Ort.

Dabei spüre ich aber auch eine grosse Ehrerbietung vor den Brüdern. Nicht wenige Male höre ich in diesen Tagen Gespräche mit, die mit «Frère Soundso hat dieses oder jenes gesagt oder getan» beginnen. Was die Brüder sagen, hat Gewicht. Ich denke zurück an das junge Paar, das an Frère Rogers Grab betete. Die Linie zwischen Verehrung und Anbetung ist zuweilen dünn. Später spreche ich Frère Richard auf diese Gefahr an. Er habe das nie erlebt, sagt er. Eine Vorsicht ist dennoch zu spüren, wenn er nachschiebt, dass die Brüder von Taizé «keine geistlichen Meister» seien. «Da müssen wir gewiss immer wieder achtgeben.»

In der Gesprächsgruppe ist erneut die Flüchtlingsfrage zentrales Thema. Wir berichten einander, wie wir die Situation in unseren Ländern erleben. Dabei stellen wir fest: Die Kirchen Europas tun etwas. Wir sprechen aber auch über die Ablehnung und den Fremdenhass, die unter dem Deckmantel christlicher Werte und Kultur propagiert werden. Frère Alois, der von Frère Roger zu dessen Nachfolger bestimmt wurde und das Amt des Priors 2005 übernahm, findet dazu deutliche Worte: Anstatt uns hinter hohen Mauern zu verschanzen, sollen wir die Angst vor dem Fremden und anderen Kulturen ablegen. Denn dieses Fremde ist eine Bereicherung. So viel politische Entschlossenheit hätte ich den Brüdern gar nicht zugetraut. Von wegen Weltflucht.

Während des Zweiten Weltkriegs versteckte Frère Roger Juden, später kümmerte er sich um Waisenkinder.

Mit der «Operation Hoffnung», die 1963 zur Unterstützung der Armen Südamerikas ins Leben gerufen wurde, leisten die Brüder an manchen Krisenherden der Welt einen Beitrag. Sei es der Bau einer Augenklinik im Kongo oder die Finanzierung von Notunterkünften für die Erdbebenopfer in Nepal. Die Communauté nahm im Burgund unter anderem Familien aus dem Irak und aus Syrien auf.

Taizé als Ort der Zuflucht, das hat Tradition. Während des Zweiten Weltkriegs versteckte Frère Roger Juden, später kümmerte er sich zusammen mit seiner Schwester Geneviève um Waisenkinder. Nach Kriegsende wurden sonntags auch deutsche Kriegsgefangene eingeladen.

Um exakt 19 Uhr gibt es Abendessen im Zelt. Ein undefinierbares Linsengericht. Dazu eingeschweissten Käse und ewig haltbares Apfelmus aus dem Becher. Ich finde es phantastisch. Allerdings muss ich mich beeilen, weil ich mich bereits um 19.30 Uhr in der Küche zum Abwaschdienst melden muss. Den leiste ich gemeinsam mit zwei Lehrern. Einer stammt aus Irland, der andere aus den Niederlanden. Die beiden jagen mich Neuling wie Sklaventreiber durch die Küche. Und nass ist es. Als ich mich zum Abendgebet in die Kirche setze, bin ich völlig aufgeweicht.

Gegen Ende der Gebetsstunde legen die Brüder eine in warmen Farben gehaltene Kreuzikone in der Mitte der Kirche auf den Boden. Nachdem sie eine Weile vor der Ikone kniend gebetet haben, verlassen sie den Raum. Augenblicklich erheben sich überall Jugendliche und eilen zum Kreuz. Die Szene erinnert an die Türöffnung bei einem Coldplay-Konzert. Auch die Jugendlichen knien nieder. Es entsteht eine riesige Menschentraube, der sich immer mehr anschliessen. Mit der Stirn das Holz des Kreuzes zu berühren, das heisst, die eigenen Lasten Christus anzuvertrauen. Ein reformierter Schelm, wer an Bilderverehrung denkt. Für die Brüder stellen die Ikonen vielmehr Sinnbilder dafür dar, dass Gott Mensch wurde. «Sie vergegenwärtigen dem Auge die spirituelle Botschaft, die das Ohr durch das Wort empfängt», lese ich dazu in meinem Taizé-Führer.

Unweigerlich stelle ich mir die Frage: Und du? Wie hast du’s mit der Religion?

Auch wenn mir die Szene fremd ist, bin ich doch bewegt von der tiefen Verbundenheit, die die jungen Menschen Jesus Christus gegenüber empfinden. Unweigerlich stelle ich mir die Frage: Und du? Wie hast du’s mit der Religion?

Ich muss mir eingestehen, dass ich das selbst nach sechs Jahren Theologiestudium immer noch nicht weiss. Da sind oft mehr Zweifel als Gewissheiten, mehr Fragen als Antworten. Vielleicht komme ich ja deswegen nicht hinter das Geheimnis der Stille, weil mir selbst der Christus am Kreuz ein Rätsel ist.

Was heisst das, dass da einer «für uns» gestorben ist? Eine Frage, um die ich beständig kreise. Einmal näher, dann wieder weiter entfernt. Wie soll ich im Glauben zur inneren Stille finden, wenn ich gar nicht weiss, ob mein bisschen Glauben dazu ausreicht? Ich merke, dass Taizé mich vor unerwartete und unangenehme Fragen stellt. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz sagte einmal: «Unterbrechung ist die kürzeste Form von Religion.» Taizé unterbricht mich gerade ganz gewaltig.

Der Funke springt: Samstag

Es ist zehn nach zwölf und die Glocken zum Mittagsgebet läuten bereits seit einigen Minuten. Ich stehe in einem der Nebenräume der Versöhnungskirche. Hier soll ich Frère Alois treffen. Der Prior habe nur kurz Zeit, hat mir Frère Richard gesagt. Er hat das Treffen für mich arrangiert.

Der 62jährige Alois Löser, so sein bürgerlicher Name, ist in Stuttgart aufgewachsen. Wie viele andere auch ist er als Jugendlicher mehrmals nach Taizé gepilgert. 1974 machte der Katholik ernst und legte das Gelübde zu einem einfachen Leben in Gemeinschaft, Armut und Ehelosigkeit ab.

Frère Alois ist nicht der erste Katholik in Taizé. Bereits in den 60ern liess sich ein katholischer Medizinstudent namens Jean-Paul nicht abwimmeln, so dass die bislang aus Reformierten und Anglikanern bestehende Bruderschaft nach einer Lösung suchen musste. Kein einfaches Unterfangen, denn einem Katholiken war der Eintritt in die Communauté bislang verboten. Letzten Endes erhielt Frère Roger aber das Amen der katholischen Kirche, und aus Jean-Paul wurde nach einem mehrjährigen Noviziat 1972 Frère Ghislain. Ein Präzedenzfall, der die Türen auch für andere Katholiken öffnete.

Während ich warte, betrachte ich eine der orthodoxen Ikonen, denen man hier auf Schritt und Tritt begegnet. Das ökumenische Taizé hat eine tiefe Beziehung zur christlichen Orthodoxie. Ebenso zum Katholizismus. Beides begegnet einem in den Gebetsstunden, der Architektur und der Kunst. Aber was ist eigentlich das Reformatorische am ökumenischen Taizé?

Gerade als ich mir überlege, was denn überhaupt das Erkennungszeichen der Reformierten sein könnte, betritt Frère Alois den Raum. Augenblicklich wird mir klar, warum Frère Roger ihn bereits 1978 insgeheim zum Nachfolger bestimmt hat. Es mag seltsam klingen, und wenn es nicht von mir käme, müsste ich selber lachen: Dieser schmächtige Mann strahlt eine geradezu einnehmende Herzlichkeit und Bescheidenheit aus. Hier stehe ich und kann nicht anders, ich fühle mich wohl.

Das Material, das bei den Pfadfindern im Sommerlager zum Einsatz kommt, findet in Taizé ganzjährig Verwendung.

«Ich habe mich gefragt, was das Reformierte an Taizé ist», sage ich nach dem Austausch der üblichen Höflichkeiten. Für Frère Alois ist das Reformierte an Taizé die Konzentration auf die Bibel: «Das ist der grosse Beitrag der Reformation, dass sie immer wieder auf die Schrift und darin auf Jesus Christus zurückgeht», sagt er begeistert. Das zeige sich etwa in den schlichten Gottesdienstfeiern. Alles sei dabei auf das Wort ausgerichtet.

Bei der Bibellesung wenden sich alle zum Ambo, wo die Lektoren stehen. Auch die Gesänge, an denen die ganze Gemeinde gut reformiert beteiligt ist, orientieren sich oft an einem Vers aus der Schrift. «Besonders reformiert ist aber auch die Mündigkeit, die in den Gesprächen hier gefördert wird.» Frère Alois verweist auf die Bibeleinführungen, Gesprächs- und Themengruppen, die jeden Tag stattfinden und helfen sollen, sich eine eigene Meinung zu bilden. «Die Freiheit ist da wichtig. Es geht nur um Gott und den Menschen. Wir können lediglich einen Raum der Stille und des Austauschs bieten. Die Beziehung muss jeder selber finden. Dazu darf niemand genötigt werden.»

Frère Alois ist das Reformatorische an Taizé wichtig, beteuert er. Dabei hatte die Beziehung zwischen Taizé und den Reformierten durchaus ihre Turbulenzen. Heute verweisen die Brüder auf die fruchtbare Zusammenarbeit, etwa beim europäischen Jugendtreffen 2007/2008 in Genf. Das war nicht immer so. Dem protestantischen Kirchenbund Frankreichs war das unabhängige und «papistische» Taizé lange Zeit ein Dorn im Auge.

Es hielt sich das Gerücht, Frère Roger sei längst zum Katholizismus übergetreten. Ein Vorwurf, den man sich wohl gefallen lassen muss, wenn man als Protestant eine monastische Gemeinschaft mitsamt Gelübde gründet. Immerhin hatte bereits der einstige Augustinermönch Martin Luther ein zwiespältiges Verhältnis zum Mönchtum. Im Grunde störte er sich nicht an der monastischen Lebensweise. Er lehnte aber die Idee ab, dass man so vor Gott besser dasteht. Dummerweise übernahmen seine Mitstreiter vor allem den zweiten Punkt, so dass das Mönchtum in reformierten Gebieten bald mehrheitlich in Verruf geriet.

Aber nicht nur die reformierte Bruderschaft an sich, sondern auch ihre Praxis wurde kritisiert. Frère Roger machte aus seiner Gemeinschaft mit der katholischen Kirche kein Geheimnis.

Ich merke, dass mir die Stille immer weniger Mühe macht.

1972 empfingen die Brüder erstmals öffentlich die Kommunion bei einer katholischen Eucharistiefeier. Seither wird in Taizé mindestens jeden Sonntag Eucharistie gefeiert. Ein Provisorium, das anhält. Eine getrennte Feier nach Konfessionen war für Roger nach dem Eintritt des ersten katholischen Bruders nicht mehr denkbar.

Die gemeinsame Eucharistie bedingt für die Communauté aber auch die Anerkennung des Papstes in Rom. Für manche Schweizer Protestanten, die bereits bei SEK-Präsident Gottfried Lochers bischöflichen Ambitionen in helle Aufruhr geraten, ist das wohl nach wie vor ein heikler Punkt.

Nach dem Mittagsgebet bin ich von den Brüdern zum Mittagessen eingeladen. Frère Richard nimmt mich bei einer Seitentreppe der Kirche in Empfang und führt mich zum Herrenhaus, das etwas abgeschirmt vom zuweilen recht hektischen Treiben bei den Baracken steht. Der Speisesaal besteht im Grunde aus einem einzigen, endlos langen Tisch. Auch hier sitzt man Schulter an Schulter. Erstaunlicherweise ist mir das überhaupt nicht mehr unangenehm. Nach einem gemeinsamen Gebet werden zu klassischer Musik die Töpfe mit dem Mittagessen durchgereicht. Es wird geschwiegen.

Ich merke, dass mir die Stille immer weniger Mühe macht. Vor zwei Tagen schossen mir noch unzählige Gedanken durch den Kopf, heute kann ich beten – na ja, mit gedanklichen Unterbrüchen, aber immerhin. Langsam habe ich den Dreh raus. Beim Frühstück hat mir der stille Wojciech gezeigt, wie man mit nichts als dem Löffel erfolgreich ein Marmeladenbrot streicht. Jetzt gehöre ich auch kulinarisch zu den Eingeweihten. Und als es später am Abend wieder zum Abwasch geht, ist von Sklaventreiberei nichts mehr zu spüren. Stattdessen veranstalte ich mit den beiden Lehrern eine Wasserschlacht. Das Rudel hat mich akzeptiert.

So kennen die meisten Taizé: die Communauté beim Gebet vor den orangefarbenen Segeln, welche die Apsis bilden. Die Gemeinschaft zählt rund 70 Brüder aus 30 Nationen.

Wenig später sitze ich mit einer Kerze in der Hand inmitten unzähliger Menschen auf dem Boden der Versöhnungskirche. Jugendliche gehen mit Silence-Schildern auf und ab. Menschen beten. Kirchenglocken läuten. Als sie verstummen, stimmt die Gemeinde das erste Lied an. Und ich singe mit, füge mich zu meinem eigenen Erstaunen wie selbstverständlich in den Chor ein. Als die Gemeinde am Schluss zum Choral «Veni Lumen» – Komm Licht – anhebt, entzündet Frère Alois gemeinsam mit einigen Kindern Kerzen. Das Feuer wird weitergegeben. Von Frère zu Frère, von Pilgerin zu Pilger, bis der gesamte Saal in warmes Licht getaucht ist – Zeichen der Auferstehung Christi. Heute bleibe ich noch ein wenig länger sitzen.

Ein Paradox: Sonntag

Nach der morgendlichen Eucharistiefeier, die mein reformiertes Gemüt dann trotzdem ein wenig befremdet, steige ich in den Bus Richtung Mâcon-Loché. Neben dem Bus stehen zwei Jungs, die sich hemmungslos weinend in den Armen liegen. Auch für sie geht es offenbar heimwärts.

Viele meiner Bedenken gegenüber Taizé haben sich in Luft aufgelöst. Eine Erfahrung, die ich offen gestanden selten mache. Religiöse Wellness gibt es hier nicht. Frère Richard betonte bei einer unserer Unterhaltungen, dass die Gebete mit den Bibeleinführungen und -gesprächen verbunden seien. Und tatsächlich ist der Austausch mit anderen Menschen das, was den Gesängen Taizés erst ihre Tiefe gibt. Auch in Schweizer Kirchen werden Taizé-Gebete gefeiert. Leider oft ohne den dazugehörigen Austausch. «Taizé lässt sich halt nicht kopieren», sagt Frère Richard.

Auch meine Befürchtung einer weltabgewandten Gemeinschaft tief im Burgund erweist sich als unbegründet. Taizé versteht sich nicht als Kirche, sondern ermutigt die Pilgerinnen, sich zuhause in der eigenen Kirche einzusetzen. Auch die Brüder selbst zeigen keinerlei Berührungsängste mit der Welt. Mit ihren Fraternitäten in Asien, Afrika und Südamerika sowie ihren internationalen Beziehungen sind sie am Puls der Zeit, mit ihren Einnahmen aus Büchern, Medien und Kunst unterstützen sie zahlreiche soziale Projekte. Gebet und Arbeit sind kein Widerspruch, sondern eine untrennbare Einheit.

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Januar 2020 bref+
Hanna Jacobs
Anna Parini

Natürlich ist auch in Taizé nicht alles perfekt. Das wissen die Brüder und verweisen immer wieder auf den vorläufigen Charakter der Communauté. Das imprägniert auch vor Kritik. Wer etwa die eigene Weise der Eucharistiefeier als anhaltendes Provisorium sieht, kann schwerlich dafür getadelt werden. Der Lack des Provisorischen blättert nach 76 Jahren jedoch langsam, aber sicher ab. Auf dem Hügel werden derzeit neue Baracken gebaut. Man hat sich eingerichtet, inklusive Bus-und Autoparkplätzen. Aus der unabhängigen Gemeinschaft ist längst eine internationale Marke geworden. Zahlreiche Bücher und Souvenirs im hauseigenen Shop machen das deutlich.

Taizé ist ein Paradox, besonders im Blick auf die vielen Jugendlichen. In Zeiten von Facebook und Twitter, wo das Expressive Gebot der Stunde zu sein scheint, besticht Taizé durch Innerlichkeit. In Zeiten, in denen durchgestylte und mit lauten Worship-Bands ausgestattete Kirchen regen Zulauf haben, lebt Taizé Einfachheit und Stille.

Während aber andere Kirchen unter ihrer hippen Fassade reichlich konservative Weltbilder propagieren, zeigen sich die Brüder von Taizé erstaunlich weltoffen. Dass die Welt nicht in sechs Tagen erschaffen wurde, ist auch auf dem Hügel kein Geheimnis. Trotzdem ist Taizé kein «Christentum light», wie Frère Richard mir sagte. Es geht um das Ganze. Wer einmal dort ist, spürt das. Bei so viel religiöser Ernsthaftigkeit kann dem Zweifler schon unwohl zumute werden. Mir ging es so. Ob er denn nie zweifle, fragte ich Frère Richard bei unserem letzten Gespräch. «Natürlich», antwortete er. «Umso wichtiger ist die Gemeinschaft. Wenn einer Zweifel hat, hat ein anderer gerade weniger. Wenn es nur auf meinen Glauben ankäme, wüsste ich nicht, ob das hält.»