In meiner schönsten Kindheitserinnerung sitze ich mit unserem Schäferhund in der Hundehütte. Mein Vater hat sie mit Teppich ausgekleidet. Durch die kleine Öffnung dringt nur wenig Licht herein. Kaum ein Geräusch ist zu hören. Hier drinnen kann mir die Welt nichts anhaben. Was ausserhalb der Hütte passiert, kann ich dagegen nur mit Mühe verarbeiten. Allgegenwärtiger Lärm, brennendes Licht, stechende Gerüche – alles stürmt auf mich ein. Dazu die vielen Menschen. Ihr Miteinander gleicht einem sozialen Tanz, dessen Schrittfolge sich mir nicht erschliesst. Schon damals begreife ich nicht, wie andere das aushalten.
Ich muss mich einfach mehr anstrengen, denke ich. Weniger ich sein. «Ich bin gar nicht da. Ich bin nur eine Idee», schreibe ich mit vierzehn in mein Tagebuch. Mit siebzehn ertrage ich kaum einen Tag ohne Alkohol. Mit achtzehn versuche ich, mir das Leben zu nehmen. Heute, zwanzig Jahre später, weiss ich: Ich bin Autist.
«Dann hast du aber eine ziemlich schlechte Berufswahl getroffen», meinte ein Freund, als ich ihm von meiner Diagnose erzählte. Ich kann ihm die Aussage nicht verdenken. Meine Arbeit als Pfarrer bringt viele Begegnungen mit sich und verlangt einiges an Feingefühl. Ein «emotionsloser Autist, der in seiner eigenen Welt lebt», wirkt da wie eine ziemliche Fehlbesetzung. Allerdings ist dieses Bild nicht viel mehr als ein Klischee. Genährt wird es durch fiktive Figuren wie der des genialen, aber sozial eingeschränkten Dr. Shaun Murphy aus der Serie «The Good Doctor». Dafür, was Autismus wirklich ist, fehlt das Gespür.
Sonnenstrahlen wie Nadelstiche
In den 1940er Jahren fielen Leo Kanner und Hans Asperger Kinder auf, die sehr verschlossen wirkten. Sie alle hatten Schwierigkeiten in sozialen Situationen. Kanner nannte sie Autisten. Während er vor allem schwerbehinderte Kinder erforschte, galt das Interesse Aspergers jenen, die sich zunächst unauffällig entwickelten. Unabhängig voneinander vermuteten die beiden Mediziner psychische Gründe für die Entwicklungsstörung. Auch Theorien, wie fehlende Mutterliebe oder gar eine Impfung seien der Auslöser, hielten sich wacker. Beide sind heute genauso widerlegt wie die Vorstellung, Autismus könne geheilt werden. Wie genau Autismus entsteht, ist nicht restlos geklärt. Eine nicht unwesentliche Rolle dürften aber die Gene spielen.
Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Erkenntnisse von Kanner, Asperger und anderen unter dem Label Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gebündelt. Spektrum deshalb, weil es uns Autisten in unzähligen, wunderbaren Variationen gibt. Manche von uns sprechen nicht, andere brauchen ein Leben lang Unterstützung, und wieder andere kommen von aussen betrachtet ziemlich gut über die Runden. Ein Sprichwort sagt: Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten. Auch meine Geschichte deckt nicht das ganze Spektrum ab. Sie ist eine von vielen.
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