In seiner 99jährigen Geschichte zeigte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin «Time» drei geistliche Frauen auf dem Cover: Die amerikanische Missionarin Mary Colomba, Mutter Teresa und im Mai 2001 eine katholische Schwester im Habit. Mit mildem Blick und sanftem Lächeln schaute sie von den Zeitungsständern auf potenzielle Leser hinab. Neben der namenlosen Frau stand die Schlagzeile: «Glauben Sie es oder nicht: diese 91jährige Nonne wird uns dabei helfen, Alzheimer zu besiegen». Mit dieser Aussage lag das «Time»-Magazin nur zur Hälfte richtig.
Die Frau auf dem Titelblatt gehörte zur Ordensgemeinschaft « School Sisters of Notre Dame», die im Nordwesten der USA im Bundesstaat Minnesota ein Kloster betreiben. Die Frau war eine von 678 Schwestern, die ab 1986 bei einer Langzeitstudie zu Alzheimer mitmachten – zu dieser Zeit die umfangreichste dieser Art. Sie teilten mit dem US-amerikanischen Wissenschaftler David Snowdon ihre Vergangenheit und Gegenwart, und sie sicherten ihm zu, ihm nach ihrem Tod ihr Hirn zu spenden. Snowdon und sein Team stellten die Frage: Welche Faktoren in der frühen, mittleren und späten Lebensphase erhöhen das Risiko, an Alzheimer zu erkranken? Die Studie ging als «Nonnenstudie» in die Wissenschaftsgeschichte ein und endete im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends mit dem Tod der letzten Schwester.
«Die Studie war sehr wichtig für die Forschung», sagt einer der renommiertesten Alzheimerforscher der Welt. Der Neurobiologe Mathias Jucker hat sich für ein Interview online zugeschaltet: weisse, mittellange Haare, schwarze Kleidung. Wüsste man es nicht besser, hielte man den Professor für einen Komponisten. Jucker ist einer der Direktoren des Hertie-Instituts für Klinische Hirnforschung in Tübingen. «Zwanzig Jahre nach den wichtigsten Ergebnissen der Nonnenstudie», fügt er seiner Würdigung an, «hat sich die Welt allerdings weitergedreht.» Warum Snowdons Studie damals so viel Aufmerksamkeit erregte, wo die Wissenschaft heute steht und wann es eine Pille gegen Alzheimer geben wird, das wird Jucker noch erklären.
Irrenärzte und Altersblödsinn
Doch erst einmal erzählt er von den Ursprüngen der Alzheimerforschung. 1901 lernte Alois Alzheimer – der spätere Namensgeber der Krankheit – in der «Frankfurter Anstalt für Irre und Epileptische» die 51jährige Auguste Deter kennen. Die Frau litt unter seltsamen Symptomen. Alzheimer notierte in ihrer Krankenakte «grosse Erinnerungslücken», «Unruhe» und «Orientierungslosigkeit». Zur Akte, heute ein Museumsstück, gehört auch das erste Gesprächsprotokoll, das Alzheimer mit seiner Patientin «Null» führte.
«Wie heissen Sie?» – «Auguste.»
«Familienname?» – «Auguste.»
«Wie heisst Ihr Mann?» – «Ich glaube … Auguste.»
«Ihr Mann?» – «Ach so.»
«Wie alt sind Sie?» – «51.»
«Wo wohnen Sie?» – «Ach, Sie waren doch schon bei uns.»
«Sind Sie verheiratet?» – «Ach, ich bin doch so verwirrt.»
«Wo sind Sie hier?» – «Hier und überall, hier und jetzt.»
1906 stirbt Auguste Deter. Alzheimer lässt ihren Körper obduzieren. Nachdem er Proben ihres Gehirns untersucht hat, notiert er: «Eigentümliche Ablagerungen in Form von Plaques auf der Hirnrinde.» Alzheimer hatte den Stoff gefunden, den Wissenschaftler wie Jucker heute als entscheidend für die Erkrankung betrachten: das Eiweiss Beta-Amyloid.
Ein halbes Jahr nach seinem Fund stellt Alzheimer den Fall Deter auf der Versammlung der Südwestdeutschen Irrenärzte in Tübingen vor. Dort wo fast 120 Jahre später Jucker am Stoff Beta-Amyloid die Forschung vorantreiben wird. Alzheimer ist nach seiner Präsentation enttäuscht : Seine Erkenntnisse werden belächelt.
Als die Krankheit 1906 entdeckt wird, vertreten Mediziner die Annahme, dass Altersblödsinn, wie sie damals genannt wird, keine biologischen Ursachen hat, sondern auf einen unzüchtigen Lebenswandel zurückzuführen ist.
Die Mediziner vertreten die Annahme, dass «Altersblödsinn», wie Vergesslichkeit im Alter damals genannt wird, keine biologischen Ursachen hat, sondern auf einen «unzüchtigen» Lebenswandel zurückzuführen ist. Hinzu kommt, dass Altersblödsinn um die Jahrhundertwende selten ist. Zu dieser Zeit werden die Menschen in Mitteleuropa im Durchschnitt nur rund fünfzig Jahre alt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steigt die Lebenserwartung stetig und somit auch die Anzahl Frauen und Männer, die im Alter immer öfters vergessen, wer sie sind.
Ab den sechziger Jahren fliessen erste staatliche Gelder in die Erforschung dieser mysteriösen Krankheit, die sich immer weiter ausbreitet. Auch David Snowdon, der das Leben der Nonnen erforscht, profitiert vom gesellschaftlichen Drang, mehr über dieses Vergessen herauszufinden. Man hätte den Pionier gern selbst zu seiner Langzeitstudie befragt. Dieser aber, inzwischen längst pensioniert, möchte nicht mehr Stellung nehmen. Dafür verweisen ehemalige Mitarbeitende auf das Buch «Aging with Grace», das der Forscher über seine Nonnenstudie schrieb.
Es liest sich stellenweise wie Snowdons Autobiografie. 1986, im Jahr, in dem er die Studie startete, war er Juniorprofessor für Epidemiologie an der Universität von Minnesota. Epidemiologinnen und Epidemiologen erforschen die Häufigkeit und Verteilung von Krankheiten in einer Bevölkerung. Sie suchen nach Risikofaktoren und wollen wissen, welche sozialen und ökonomischen Folgen eine Krankheit für eine Gesellschaft hat. In Zeiten von Covid-19 sind die Aussagen der Wissenschaftlerinnen in aller Munde.
Snowdon arbeitete abseits des Rampenlichts. Er suchte für seine Studie nach einer homogenen Gruppe innerhalb der amerikanischen Gesellschaft – und fand diese in den Ordensgemeinschaften der «School Sisters Of Notre Dame».
Der Fall Bernadette
Im Kloster leben alle an einem Ort, «wie unter Laborbedingungen» zusammen, schreibt Snowdon in seinem Buch. Die Nonnen essen sehr ähnliche Mahlzeiten, rauchen nicht, trinken nicht, leben enthaltsam und bekommen die gleiche ärztliche Versorgung. Und da sie alle kein Vermögen haben, haben sie alle auch keine Geldsorgen. So konnte Snowdon sogenannte Störfaktoren bei seiner Suche nach Risikofaktoren für eine Alzheimer-Erkrankung ausschliessen.
Für die Studie erhielt der Forscher auch Zugang zu den Personalakten der Schwestern. Sie enthielten unter anderem ihre Lebensläufe und ihre Krankengeschichte. Und was für Snowdons Forschung noch wichtig werden sollte: Auch die Motivationsschreiben der jungen Novizinnen, die sie vor Eintritt in den Orden verfasst hatten, waren in der Akte abgelegt.
Jedes Jahr reisten Snowdon und sein Team zu den 678 Frauen und massen ihre Hirnleistung. Dafür mussten die Nonnen unter anderem Worte rückwärts buchstabieren, Uhrenstände zeichnen, sagen, zu welchem Zeitpunkt sie sich wo aufgehalten haben. Auch wurden sie aufgefordert, Gegenstände auf Fotos zu benennen und kleine Tests zu absolvieren – zum Beispiel so viele Früchte wie möglich innerhalb einer Minute aufzählen. Auch ihre Motorik wurde geprüft.
Am Ende eines Untersuchungstages beobachteten die Forscher ihre Studiengruppe noch im Alltag. Konnten die Frauen das Radio oder die Waschmaschine bedienen, konnten sie in der Küche helfen, gar kochen?
Über die Jahre gewann Snowdon einen Überblick, wie die einzelnen Schwestern alterten. Unterschiede zwischen ihnen wurden deutlich. Die Forscher gingen davon aus, dass jene, die im hohen Alter eine hohe Selbständigkeit aufwiesen und auch geistig fit waren, keine dieser von Alois Alzheimer entdeckten Beta-Amyloid-Plaques im Gehirn hatten. Diese Annahme hielt sich so lange, bis David Snowdon das Gehirn der verstorbenen Schwester Bernadette untersuchte.
Die 85jährige war bei bester Verfassung im Kloster zusammengebrochen: Herzinfarkt. Als Snowdon ihr Gehirn obduzierte, entdeckte er Furchen auf der Oberfläche. Danach wog er es. 1000 Gramm, vermerkte er in seinen Unterlagen – das Organ war leichter, als er erwartet hatte, leichter als ein gesundes Gehirn. Dann zerschnitt er die Hirnmasse in hauchdünne Scheiben und präparierte sie zu Proben. Unter dem Mikroskop sah er Beta-Amyloid-Ablagerungen selbst im sensibelsten Bereich, dem Neocortex. Am Ende klassifizierte er das Organ mittels einer Skala von eins bis sechs. Bernadettes Gehirn bekam eine sechs. Aus Sicht der damaligen Alzheimerforschung hatte es eine Art Totalschaden erlitten. Bernadette hätte in höchstem Grad vergesslich gewesen sein müssen, verwirrt und längst der Sprache beraubt. Das war sie aber nicht. Wie war es möglich, dass sie bis zu ihrem Lebensende keine Auffälligkeiten zeigte?
Im Lauf seiner Langzeitstudie stellte Snowdon fest: Bernadette war nicht die Einzige, die sich widerstandsfähig zeigte. Bei einem Drittel der 678 Schwestern entdeckten die Forscher ebenfalls viele Ablagerungen im Gehirn, aber keine Alzheimer-Symptome zu Lebzeiten. Das war für ihn ein Indiz dafür, dass man die Krankheit überlisten kann. Alzheimer war von nun an auch wieder eine Frage des Lebensstils – fast wie zu Alois Alzheimers Zeit, nur unter anderen Vorzeichen.
So kam es, dass das «Time»-Magazin eine der Nonnen auf seinem Cover zeigte und dafür sorgte, dass sich die vereinigte Weltpresse für die Schwestern, ihren Lebensstil interessierte und für Snowdon, den Wissenschaftler der Stunde. «Escapees», also Entflohene, nannte Snowdon die Nonnen, deren Gehirne nach ihrem Tod Plaques aufwiesen, ohne dass die Frauen Demenzsymptome gehabt hatten. Sie waren an anderen Erkrankungen gestorben und Alzheimer entflohen.
Am Ende der langjährigen Untersuchung hat Snowdon belegen können, was diese «Escapees» gemeinsam hatten, nebst der Art und Weise, wie sie lebten: Sie waren im Schnitt länger zur Schule gegangen als ihre Mitschwestern und zeigten grössere Fertigkeit beim Verfassen von Texten. Dies hatte die Auswertung der Motivationsschreiben der Novizinnen ergeben.
Gestörte Kommunikation
Snowdons Erkenntnisse lieferten Stoff für eine energisch geführte Debatte. Hirnforscher Mathias Jucker seufzt im Videotelefonat. Es habe nicht wenige Forscher gegeben, die nach Veröffentlichung von Snowdons Resultaten meinten, Beta-Amyloid, diese biochemische Substanz im Gehirn, sei nicht entscheidend für Alzheimer.
Doch die Welt hat sich eben weitergedreht, und damit ist das Eiweiss Beta-Amyloid wieder ins Zentrum der Forschung gerückt. Neurobiologe Jucker hat der Substanz sein halbes Forscherleben gewidmet. Er betreut in Deutschland die internationale Studie DIAN. Die Buchstaben stehen für «Dominantly Inherited Alzheimer’s Network Trials Unit» – zu deutsch: Internationales Netzwerk zur Erforschung der dominant vererbten Alzheimer-Krankheit.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die an diesem Projekt arbeiten, erforschen eine sehr seltene und vererbbare Form von Alzheimer und begleiten dafür rund 500 Familien weltweit. In den Genen der Familienmitglieder gibt es eine seltene Mutation, die den Träger des veränderten Gens zu fast 100 Prozent an Alzheimer erkranken lässt. Die Alzheimer-Gene werden mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zudem an die Kinder der Betroffenen vererbt. Nachkommen, die diese Gene in sich tragen, erkranken dann zu einem ähnlichen Zeitpunkt wie ihr Elternteil.

David Snowdon, Epidemiologe und Initiator der Nonnenstudie, durfte nach dem Tod der untersuchten Schwestern ihr Gehirn obduzieren.
Die DIAN-Studie konnte zeigen, welchen Verlauf die Krankheit im Gehirn nimmt und wie Beta-Amyloid mit ihr zusammenhängt. Mehr als zwanzig Jahre vor Ausbruch der ersten Symptome lagert sich das erste Beta-Amyloid im Gehirn der Probandinnen und Probanden ab. Im Verlauf der Jahre entstehen immer mehr und mehr dieser Eiweiss-Ablagerungen, bis eine Art Sättigung eintritt. Gut ein Jahrzehnt lang, sagt Jucker, toleriere das Gehirn die Ablagerungen an seinen Nervenzellen, bis ein Kipppunkt erreicht sei. Erst dann verändern sich die Nervenzellen so, dass ihre Kommunikation untereinander gestört wird. Doch es bleibt nicht bei der Störung : Nach und nach beginnen die Zellen zu sterben. Ein Prozess, der mit dem Tod der Erkrankten endet.

Das Cover des US-amerikanischen Magazins «Time» vom 14. Mai 2001 zeigt eine der 678 Schwestern, die bei Snowdons Langzeitstudie zu Alzheimer mitmachten.
Dass Schwester Bernadette und viele andere Nonnen ein «Alzheimergehirn» gehabt hätten, aber keine Symptome zeigten, ist für Jucker aus heutiger Sicht im Gegensatz zu 2001 «keine Überraschung». Die Forschung weiss mittlerweile: «Hätten die Nonnen länger gelebt, hätte jede einzelne von ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit Symptome bekommen.» Ja, die Nonnen seien «Escapees», wie sie Snowdon nannte, Entflohene. Ihre Gehirne hatten den Kipppunkt noch nicht erreicht.
Die Frage drängt sich auf: Wie lässt sich dieser Kipppunkt nach hinten schieben? Leben etwa wie die Nonnen im Kloster? Jucker lacht und bejaht.
Berner Präventionsexpertinnen
Eine Zugfahrt nach Bern. Schwester Therese empfängt vor dem Mutterhaus der Ordensgemeinschaft Berner Diakonissen in Sichtweite des Salem-Spitals. Sie trägt eine blaue Tracht und auf dem Kopf ein weisses Häubchen, auf Brusthöhe baumelt ein Medaillon, auf das die biblische Figur Elisa geprägt ist. Schwester Therese wohnt noch in dem Mutterhaus der Diakonissen, einige Mitschwestern sind bereits in ein Altersheim gezogen, das wenige Schritte entfernt liegt. Das Haus Oranienburg bildet heute den Lebensmittelpunkt der Ordensgemeinschaft. Hier beten und essen alle 28 reformierten Diakonissen. Sie führen ein klösterliches Leben. 1934 waren es noch rund 1000 gewesen. Alt seien sie geworden, erzählt Schwester Therese auf dem kurzen Spaziergang zu dem unscheinbaren Zweckbau.
Die 175 Jahre alte Tradition der Diakonissen wird bald enden und damit ein Lebensstil, der das Gehirn gesünder altern lässt.
Die 175 Jahre alte Tradition der Diakonissen wird bald enden und damit ein Lebensstil, der das Gehirn gesünder altern lässt. Neue Anwärterinnen nimmt der Orden keine mehr auf. Im Altersheim schliesst Schwester Therese die Tür zu einem kargen Besprechungsraum auf. Drinnen giesst sie zwei Gläser Wasser ein und erzählt, was für sie das Leben im Kloster ausmacht.
«Wenn man sich bei einer Bergwanderung an einem Geländer festhält, kann man unentwegt die schöne Landschaft betrachten», sagt sie. Doch wem das Geländer fehle, müsse sich darauf konzentrieren, nicht herunterzufallen. Der Blick sei auf die Bergseite gerichtet. Die Hände hätten zu tun. Mit dieser Erklärung will sie veranschaulichen, dass das Kloster in ihrem Leben Stütze und Geländer ist. In ihren jüngeren Jahren sorgte es dafür, dass Schwester Therese ihre Zeit dazu nutzen konnte, sich auf das zu konzentrieren, was für sie Sinn ergab: auf ihre berufliche Karriere als Lehrerin für Krankenschwestern, auf das Lesen von Sachbüchern, aufs Studieren von Fremdsprachen, die theologischen Gespräche und die gemeinsame Zeit mit ihren Mitschwestern. Und natürlich auf das Gebet.
«Wissen Sie», fährt Schwester Therese fort, «das Leben im Kloster bedeutet noch etwas mehr: kein Stress.» Sie habe sich nie um den «anstrengenden» Alltag kümmern müssen. Nie kochen, nie Wäsche waschen und nie mit Kindern diskutieren müssen, wann Zeit zum Schlafengehen sei. Stattdessen hatte sie Zeit für sich und ihren Glauben an Gott, an einem Ort, an dem sie sich bis heute geborgen und anerkannt fühlt und an dem sie gefördert wurde. Und an dem sie seit ihrer Pensionierung jeden Tag die Vögel in der Voliere im Garten beobachten kann.

Schön, pensioniert zu sein. Seither hat Schwester Therese jeden Tag Zeit, in der Voliere des Hauses Oranienburg die Vögel zu hätscheln.
Wenn man ihr zuhört, wie sie über ihre Vergangenheit spricht, hat diese Erzählung so gut wie nichts mit dem Klischee zu tun vom monotonen Leben hinter Klostermauern. Stattdessen eröffnet sich eine Welt an Freiräumen, Möglichkeiten und Chancen. Als das Kloster eine Organistin suchte, interessierte sich Schwester Therese für diese Aufgabe. Und obwohl sie kaum Klavier spielen konnte, bekam sie die Möglichkeit, sich zur Organistin ausbilden zu lassen. Zwei Jahre lang studierte sie darauf am Berner Konservatorium. Die Ordensgemeinschaft unterstützte sie, übernahm die Kosten und befreite sie von anderen Pflichten. Auch eine Chorleiter-Ausbildung konnte sie machen. Und wenige Jahre vor der Pensionierung forderte sie ein weiteres Projekt heraus: die Gründung eines kirchlichen Hilfswerks für Langzeitarbeitslose. Auf einmal war sie nicht mehr nur Organistin und Lehrerin, sondern auch Organisatorin, Seelsorgerin, Managerin.
Heute ist Schwester Therese 79. Sie weiss, dass sie nie im Leben so viele verschiedene Dinge hätte tun und ausprobieren können, wenn sie einen bürgerlichen Weg eingeschlagen hätte. Mädchen, die wie sie auf dem Land aufgewachsen sind, durften vom Leben nicht allzu viel erwarten. Sie hätte vielleicht eine Berufslehre machen können, doch danach hätte sie wahrscheinlich geheiratet, Kinder bekommen und wie viele Frauen ihrer Generation hauptsächlich zum Haus und zur Familie geschaut.
Die Diakonissen galten zu Schwester Thereses Jugendzeit als einflussreiche und gebildete Frauen. In den Dörfern leiteten sie die Kindergärten oder gar Kliniken. Das imponierte der jungen Frau. Nach der obligatorischen Schule schloss sie sich ihnen an.
Am Ende des Gesprächs steht sie auf und führt durch die leeren Gänge des Altersheims zum Andachtsraum, zu einem grossen Saal, dem Innenraum einer Kirche nicht unähnlich. In einer der Holzwände ist die Orgel eingelassen. Sie lupft ihre Schwesterntracht, lässt sich auf der Sitzbank des Instruments nieder und streift ihre schwarzen Lederschuhe ab. Mit den Zehenspitzen befühlt sie die Pedale. Dann schaut sie auf die Noten vor ihr – «Johann Sebastian Bach». Sie schüttelt ihre Hände aus, rollt die Schultern, holt Luft und versinkt mit schwingendem Körper und geschlossenen Augen in der Musik.
Könnte man nun in Schwester Thereses Gehirn schauen, würde man eine Art Gewittersturm erleben. Millionen Neuronen funken beim Musizieren elektrische Signale, ausser dem Hörzentrum sind auch die Hirnareale für räumliches Denken aktiv. Musik kann Erinnerungen hervorrufen, die das Seh- und das Geruchszentrum anregen. Die Grosshirnrinde, dort, wo die Motorik gesteuert wird, arbeitet auf Hochtouren. Schwester Thereses Körper schüttet Serotonin, Dopamin und das Bindungshormon Oxytocin aus, mit anderen Worten: Sie betreibt jetzt gerade Alzheimerprävention.
Die Pille
Stefan Klöppel ist Professor an der Uni Bern und Direktor und Chefarzt der Universitätsklinik für Alterspsychiatrie am Inselspital. Er weiss um die präventive Wirkung des Musizierens. Generell gilt: wer sich ein Leben lang weiterbildet und sich auch im hohen Alter noch herausfordert, hat grössere Chancen, geistig länger fit zu bleiben.
Inzwischen muss man nicht mehr ins Kloster gehen, um eine höhere Bildung zu erhalten und ein Leben zu führen, das einen geistig immer wieder aufs neue stimuliert.
Während in den fünfziger Jahren nur ein Bruchteil der Menschen studierte, beträgt die Akademikerdichte in der Schweiz heute knapp 30 Prozent. Und auch in vielen nicht akademischen Berufen verlangen die Arbeitgeber, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiterbilden. «In Industriestaaten hat sich eine Kultur des lebenslangen Lernens etabliert», sagt Klöppel. Zu-dem lebe man heutzutage generell viel gesünder. All das komme einem Konzept zugute, das kognitive Reserve heisst.
Menschen, die alle Risikofaktoren gut kontrollierten, seien widerstandsfähiger gegenüber Alzheimer. 13 Risikofaktoren können die Wissenschaftlerinnen heute benennen (siehe Grafik). Wer sie in den Griff bekommt, kann den Symptombeginn einer Alzheimer-Krankheit nach hinten verschieben. Manche erlebten ihn dann gar nicht mehr. Und solche, die ungünstige genetische Voraussetzungen hätten, würden zwar erkranken, aber später.

«Leider», bedauert Klöppel, «ist der Präventionsgedanke noch viel zu wenig in der Bevölkerung angekommen.» Rund 150 000 Menschen sind in der Schweiz aktuell von einer Demenz betroffen. Davon leiden schätzungsweise 60 Prozent an Alzheimer, der häufigsten Form von Demenz. Es müssten nicht so viele sein. Deshalb sieht Klöppel politischen Handlungsbedarf. Der Staat sei verpflichtet, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Zudem ist die Betreuung von Alzheimer-Kranken teuer, und das Leid ist unfassbar gross, das Angehörige erfahren, die auf diese Art einen Menschen verlieren, obwohl er noch lebt.
Klöppel sagt, man könne mit der heutigen Diagnostik die Menge an Beta-Amyloid im Gehirn messen und gut vorhersagen, wie hoch oder niedrig das Risiko des Einzelnen sei. Auf diese Risikoeinschätzung müsse aber eine gute Beratung erfolgen, auf den Menschen zugeschnitten.
Mit Rauchen aufhören, sich gesünder ernähren, mehr bewegen – die Klassiker der Prävention sind allen zu empfehlen. Bei der Alzheimerprävention müssten Ärzte aber auch darauf aufmerksam machen, dass eine kurze Schulbildung oder eine durchgemachte Depression eine spätere Erkrankung begünstigen kann. Und sie müssten auch erklären, weshalb es wichtig ist, auf das Gehör achtzugeben: Hörverlust steigert das Risiko einer Alzheimer-Erkrankung markant. Wer immer weniger hört, zieht sich aus der Gesellschaft zurück und ist weniger Reizen ausgesetzt, die das Gehirn stimulieren. Bis zu 40 Prozent, sind sich die Forscher einig, tragen diese Lebensrisiken dazu bei, dass Alzheimer ausbricht, oder genauer gesagt: die Menge der Beta-Amyloid-Ablagerungen verursacht im Gehirn den Kipppunkt.
Für die präventive Diagnostik und Beratung bezahlen sollte die Krankenkasse, führt Klöppel weiter aus. «Wenn die Schweizer ihre Alzheimerzahlen senken wollen», schliesst er, «muss mehr passieren. Jedenfalls so lange, bis wir ein Medikament haben, das dafür sorgt, dass Alzheimer nicht ausbrechen kann.»
Die Therapie in Form einer Pille – die hätte längst auf den Markt kommen sollen. Aber dann stellte das Pharmaunternehmen Biogen seine Entwicklungsarbeiten am Präparat Aducanumab 2019 ein und brach die klinischen Studien ab. In den USA hat es die Food and Drug Administration unter dem Namen Aduhelm letztes Jahr dennoch zugelassen, beobachtet seine Wirkung aber genau.
Das Präparat, dessen Wirkstoff das Alzheimer-Eiweiss aus dem Gehirn filtern soll, hatte geholfen, den Beta-Amyloid-Spiegel im Gehirn zu senken. Das zeigten klinische Studien, die Biogen gemacht hatte. Doch die Hirnleistung der Erkrankten verbesserte sich nicht wirklich. Jucker sagt, heute würden Wissenschaftler wie er denken: Sei im Gehirn der Kipppunkt bereits erreicht, sei es schwierig, die Krankheit aufzuhalten. Damit sie nicht ausbreche, würden neue Wirkstoffe in Zukunft wohl an Menschen getestet werden, die ein hohes Risiko haben, an Alzheimer zu erkranken – und nicht an Menschen, die bereits Symptome spüren. Bis für letztere ein Wirkstoff auf den Markt kommt, der tatsächlich hilft, werde es wohl noch viele Jahre dauern, sagt Jucker.
Im Andachtsraum des Hauses Oranienburg ist es still geworden. Schwester Therese hat ihr Orgelspiel abgebrochen. Sie klappt das Notenheft zu und sagt: «Ich glaube, man muss seinen Kopf gebrauchen, damit man ihn nicht verliert.» Ein Satz, der sich so ähnlich auch in Snowdons Nonnenstudie finden lässt.
Mitarbeit Erika Burri.