Die Madonna aus Messing ist so gross wie mein Unterarm, wiegt etwas mehr als drei Kilogramm, und meine Oma plante stets, sie potenziellen Einbrechern um die Ohren zu schlagen. Mag der Blick der Gottesmutter auch voll Liebe und Güte sein, im Sprachgebrauch meiner Familie heisst die Madonna deswegen Totschläger-Madonna. Maria, das Christuskind zärtlich im Arm wiegend, ist im Lauf der Jahre an manchen Stellen angelaufen. Schwarze Spuren umrahmen ihre Augen und die Falten ihres Mantels. Früher thronte sie auf dem Sims über dem Fernseher und wachte von dort nicht nur über «Tagesschau» und «Tatort». Dann verschwand sie eines Tages in einer Kiste.
Dort ist sie nicht allein. Ihre Mitbewohner sind Kreuze, gross und klein, aus Holz, aus Messing, Rosenkränze, Weihwasserbecken für zuhause, andere Marienfiguren, silberne Engelanhänger, abgegriffene Gebets- und Gesangbücher, Heiligenbilder, Bibeln, Ikonen. Manch einer würde sagen, das ist Krimskrams. Doch das stimmt nicht. Der Karton zeigt ein Sammelsurium des Glaubenslebens meiner Oma. Sein Inhalt ist mir lieb und teuer. Wie viel Leben, wie viel Geist steckt in all diesen Dingen noch drin?
«Wag es ja nicht!»
Eineinhalb Jahre sind seit ihrem Tod vergangen. Damals räumte meine Familie viele Wochenenden lang ihre Wohnung leer. Alles, was mit ihrem Glauben zu tun hatte, rettete ich in den Karton. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir auch alles andere aufbewahrt. Darf man die Gegenstände aus dem Leben einer Verstorbenen wegschmeissen, einfach so? Wenn ich ihre Sachen wegwerfe, schmeisse ich dann nicht auch meine Oma weg? Bei jedem Teil, das wir an die Strasse stellten, und war es auch nur ein verbogener Kerzenständer, krampfte sich mein Magen zusammen und meine Hände zitterten.
War das nicht ein Verrat an meiner Oma und an all den Dingen, die ihr wichtig waren? Wenn man ihr, der Sammlerin, zu Lebzeiten anbot, das eine oder andere Teil zu entsorgen, dann zog sie die Augenbrauen hoch, hob den Zeigefinger und sagte: «Wag es ja nicht!»
Die Kreuze, Marienfiguren, Rosenkränze, sie sind die Mahnung an die Hoffnung, die meine Oma durch ihr Leben getragen hat und die sich nun in ihrem Tod vollendet haben möge.
Und so wagte ich es nicht. Stattdessen reihen sich nun in einem Kellerraum auf dem ausgetretenen Linoleumboden die Regale aneinander. In ihnen stapeln sich ein altes Teeservice, Schulzeugnisse aus den fünfziger Jahren, Briefe in schwer lesbarer Schreibschrift, selbstgemalte Bilder, verblichene Fotoalben, zerfallende Notizbücher. Es ist das unsortierte Gedächtnis einer Grossfamilie. Die Monate zogen ins Land. Und im neuen Jahr konnte ich die ersten Dinge gehen lassen, ganz allmählich. Omas kaputter Toaster landete auf dem Sperrmüll. Der Regenschirm, den der Wind zu oft umgedreht hatte, folgte ihm.
Anders gestaltet es sich mit der Kiste mit den religiösen Gegenständen. Sie sind nicht besonders wertvoll. Wie viel Leben befindet sich nun in all diesen Dingen noch? Viel. In ihnen steckt das Leben meiner Oma.
Die Gesang- und Gebetbücher, die Kreuze, Marienfiguren, Engelanhänger, Rosenkränze, sie sind nicht einfach nur liebe Erinnerungsstücke. Sie sind die Mahnung an die Hoffnung, die sie durch ihr Leben getragen hat und die sich nun in ihrem Tod vollendet haben möge.
In diesem Karton findet sich zum Beispiel ein einfacher Rosenkranz mit schlichten Holzperlen. Meine Oma wurde 1940 in Kerpen bei Köln geboren, mitten hinein in die Wirren des Zweiten Weltkriegs. Nur selten erzählte sie von dieser Zeit und den Jahren danach. Nachts sass sie im Bunker und hörte, wie die Bomben einschlugen. Ihre Mutter und die anderen Frauen hielten die Rosenkränze in den Händen und beteten Perle um Perle: Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.

«Komm, Kind, lass uns noch ein Kölsch aufmachen», sagte die Grossmutter gern.
Überhaupt, Maria. Neben der Totschläger-Madonna liegt eine weitere Marienfigur in der Kiste. Die aus Holz gefertigte Madonna stand über Omas Bett. Das Jesuskind klammert sich wie ein Äffchen an seine Mutter. Die Maria ist handgeschnitzt; niemand kann mir sagen, woher sie stammt. Mit Sicherheit hat Oma mir von ihr erzählt, doch ich habe es vergessen, und die Geschichte liegt nun gemeinsam mit ihr unter der Erde. Darüber ein Grabstein – wieder mit einer Madonna drauf.
Es ist schon die zweite Marienstatue ihrer Art. Die erste zog auf den Friedhof, als mein Grossvater starb. Oma ging täglich zum Grab ihres Mannes und Maria wurde gereinigt. Tips dazu kamen von Freunden, Grabsteinbauern und regelmässigen Friedhofbesuchern. Mal schrubbte sie den Umhang mit einem in Essig getränkten rauhen Lappen, mal mit Zitrone und Backpulver, mal mit chemischen Mittelchen, die seit Jahren auf einem Brett in der Garage auf ihren Einsatz warteten. Irgendwann war die einst glänzende Mutter Gottes stumpf und matt. Kaputt-geputzt aus Liebe.
Auf der ersten Seite des abgegriffenen Gebetbuches mit den hauchdünnen Seiten steht in blauer Tinte geschwungen geschrieben: «Zur Ersten Heiligen Kommunion am 16. April 1950 von Patin und Pate». Omas Vater war zurück aus der Kriegsgefangenschaft. Das Essen blieb knapp. In den folgenden Jahren wurde es besser. Als erstes Mädchen im Ort besuchte Oma die höhere Handelsschule und machte eine Lehre bei der Bank. Sie hätte gerne studiert, durfte es aber nicht.
Als ich nach dem Abitur zum Theologiestudium nach Freiburg ging, sog sie meine Erzählungen darüber auf. Bei einem ihrer Besuche begleitete sie mich in die Vorlesung und folgte konzentriert den Ausführungen des Professors zur Entstehung der Mariendogmen, kritzelte mit dem Bleistift den Notizblock voll – in Stenografie. Die nächsten Abende sassen wir bei Wein und Flammkuchen zusammen und diskutierten über Maria, Päpste und die Kirche. Vor allem aber über Maria.

38 Jahre lang begleitete das «Gotteslob» mit Goldschnitt die Grossmutter bei Beerdigungen, Taufen, Firmungen.
Auf Maria liess Oma nichts kommen. Die beiden Bändchen in ihrem alten «Gotteslob», dem katholischen Gesangbuch, sind noch eingeschlagen. Bei Nummer 952 aus dem Kölner Bistumsanhang. Nummer 952 ist das Marienlied «Wunderschön prächtige». Nummer 218 ist «Gelobt sei Gott im höchsten Thron», ein Gesang zur Osterzeit.
Es ist das «Gotteslob» mit Goldschnitt, gedruckt 1975 in Ostfildern. Ein schwarzer Ledereinband schützt das Buch, das Oma jeden Sonntag mit in das Gotteshaus nahm, bis es Ende 2013 durch die neue «Gotteslob»-Version ersetzt werden musste.
38 Jahre lang hatte das Buch meine Oma begleitet. Es war bei der Beerdigung von Schwester, Mutter, Vater, Ehemann dabei, bei den Taufen, Erstkommunionen, Firmungen von Kindern und Enkelkindern. 38 Weihnachten und Ostern hat es gesehen, mehr als 1250 Sonntage im Jahreskreis.
Das «Gotteslob», dieses Gesang- und Gebetbüchlein, ist ein Schatz. Zwischen den Seiten reihen sich die Totenzettel – kleine Blätter mit den wichtigsten Lebensdaten von Verstorbenen. Einer davon ist von meiner Ururgrossmutter, die 1978, drei Monate vor ihrem 98. Geburtstag, verstarb. Sie sei die erste emanzipierte Frau in der Familie gewesen, heisst es. Zweimal im Jahr fuhr sie mit ihrem Mann vom Land in die Stadt: ein Shoppingtag in Köln. Nach dem Einkaufen wollte sie immer noch ein Bier trinken. Meinem Ururgrossvater war das unangenehm. Und so blieb er regelmässig vor dem Brauhaus stehen, während seine Frau drinnen an der Theke zwei Kölsch trank. Danach sammelte sie ihren Gatten wieder ein.
«Komm, Kind, lass uns noch ein Kölsch aufmachen», sagte Oma abends gerne zu mir, und es war der Startschuss für die nächsten Stunden. Dann erzählte sie davon, wie schön die Jahre als junge Familie gewesen waren, oder davon, wie sie als Jugendliche an den Wochenenden aufs Fahrrad stieg und die Nächte in Jugendherbergen verbrachte. Einfach rauskommen, die Welt kennenlernen.
Vor jeder Reise rief sie den heiligen Christophorus an, den Schutzpatron der Reisenden. «Da hat der Christophorus wieder gut auf mich aufgepasst», sagte sie nach der Rückkehr. Ein holzgeschnitztes Bild und eine Medaille mit seinem Abbild liegen in der Kiste. Wenn ich sie betrachte, spüre ich die Hand, die sich stets schützend über meine Oma legte. Heiliger Christophorus, bitte für uns.
Doch es sind vor allem die Totenzettel, die kleinen Erinnerungen an die längst Verstorbenen, die ich immer wieder in die Hand nehme. Der älteste stammt aus dem Dezember 1975. Die Vorderseite ziert ein Ausschnitt von Michelangelos Pietà: ein stiller Schmerz. Die Schwester meiner Oma starb unerwartet mit nur 32 Jahren. Neben den eigenen fünf Kindern zogen meine Grosseltern nun auch die Tochter der Verstorbenen auf.
Die Spur meiner Grosstante verliert sich im «Gotteslob». Jeden Sonntag trug Oma die Schwester mit. Deren letzte Ruhestätte gibt es nicht mehr. Einzig ihr Name wurde auf dem Grabstein meiner Urgrosseltern vermerkt – in liebevoller Erinnerung. Der Geist meiner Oma zieht immer noch durch das «Gotteslob», lässt mir ein kleines Stück ihrer Seele zurück.
Auch Heiligenbilder noch und nöcher verstecken sich zwischen den Seiten. Sie stammen aus Lourdes, aus Fatima. Oma besuchte die Wallfahrtsorte mehrfach und hielt dort einen kleinen Plausch mit Maria. Wenn ich die Bilder anschaue, frage ich mich, was sie in ihren Zwiegesprächen besprochen haben mögen. Ich finde dort auch einen Spendenaufruf vom Bonifatiuswerk, ein plattgedrücktes Taschentuch, ausgedruckte Noten. Und eine Postkarte aus der Wallfahrtskirche Kaltenbrunn.
Ein leiser Abschied
Die beste Freundin meiner Oma, über sechzig Jahre lang hielt die Verbindung, schickte die Postkarte vor knapp dreissig Jahren aus dem Kaunertal in Tirol ins Rheinland. Mit «Dass der Eine für den Anderen zu gegebener Zeit eine Kerze anzünden möge» endet der Gruss. Es war ein Versprechen.
Oma hat mir so vieles hinterlassen, so viele Erinnerungen an Gespräche und Feiern und gemeinsame Urlaube, Briefe, Karten und meine halbe Küchenausstattung. Doch dieses
«Gotteslob» ist mir heilig. In ihm ist verwahrt, woran sie glaubte. Es ist Zeuge ihrer Hoffnung.
Vielleicht wird es mal eine Zeit geben, in der ich die kleinen Porzellanengel und ihre Gefährten gehen lassen kann. Dann werde ich verstanden haben, dass Omas Glaube grösser war als die kleinen Putten.
Wenige Monate vor ihrem Tod las ich ihr jeden Nachmittag aus einem Buch vor: «Wir Christen glauben nicht daran, dass wir vor dem Tod bewahrt werden, sondern …» – und da unterbrach Oma mich, blickte mich an und sprach: «… sondern dass wir im Tod bewahrt werden.» Sie drückte meine Hand. Heute blicke ich auf das Holzkreuz in der Kiste. Hat er, der da hängt, sein Versprechen gehalten? Omas altes «Gotteslob» befindet sich nicht mehr in der Kiste. Jetzt nehme ich es mit in den Gottesdienst. Meine Finger blättern durch die Seiten, durch die die ihren einst fuhren. Nun liegt auch der Totenzettel meiner Oma zwischen ihnen.
Auch die Totschläger-Madonna hat einen neuen Platz gefunden. Sie steht in meinem Bücherregal und schaut mir im Homeoffice über die Schulter. Sollen sie nur kommen, die Einbrecher! Vielleicht wird es mal eine Zeit geben, in der ich die kleinen Porzellanengel und ihre Gefährten gehen lassen kann. Dann werde ich verstanden haben, dass Omas Glaube grösser war als die kleinen Putten. Die Kreuze und Gebetbücher hingegen werde ich wohl auf ewig behalten. Oma ist zu früh gegangen, und weil sie nun nicht mehr da ist, um mir Halt zu geben, muss ich mich an dem festhalten, woran sie sich einst festhielt. Ihren Tod habe ich ihr bis heute nicht verziehen.
Als meine Grossmutter starb, konnte ich nicht bei ihr sein. Ich durfte sie nicht im Arm halten, für sie singen und beten, wie wir es Jahre zuvor beim Tod meines Grossvaters gemeinsam taten. Die Pandemie hat uns diese letzten Stunden genommen.
Erst als ich ihren Leichnam am nächsten Tag beim Bestatter sehen durfte, konnte ich es glauben. Der Tumor in ihrem Kopf hatte gewonnen, einfach so. Bis zuletzt hatte sie sich gegen ihn gewehrt, war mit Operationen, die ihren Schädel deformierten, in die Arena gezogen.
Bei meinem letzten Besuch habe ich Oma, deren Finger ständig tastend und suchend über den Rand der Bettdecke huschten, ein handtellergrosses Kreuz aus Olivenholz mitgebracht. Vor Jahren hatte ich es in Bethlehem gekauft und auf dem Salbungsstein der Jerusalemer Grabeskirche gesegnet. Mit dem Kreuz in der Hand wurde sie gleich ruhiger. Ihre Fingerspitzen liefen über die Kanten des Kreuzes und ich sang leise «Wer nur den lieben Gott lässt walten». Wir haben das Kreuz in ihren Händen gelassen. Oma nahm es mit in ihr Grab.