Franziska von Grünigen hat einen Auftrag. Den Metallkoffer in der einen, das Mikrofonstativ in der anderen Hand, schreitet sie durch die Eingangshalle des Kantonsspitals Baden. Im elften Stock wird sie Cordula treffen, eine 38jährige Primarlehrerin, Diagnose Lungenkrebs, verheiratet und Mutter von zwei Mädchen im Alter von fünf und sieben Jahren.
Unwissend, wie weit Cordulas Krankheit fortgeschritten ist, ob die Zeit noch reicht, hatte von Grünigen am Morgen etwas Lampenfieber; wie meistens, wenn sie Menschen für das Projekt Hörschatz zum ersten Mal begegnet. Ihr hilft dann ein Ritual. In Ruhe füllt sie zu Hause ihren Koffer mit Mikrofon, Kabel, Kleenex – und einem noch leeren Hörschatz. Geht alles gut, liegt in dem Holzkistchen bald ein USB-Stick in Herzform, gefüllt mit Episoden über ein Leben, das viel zu früh enden wird.
Im elften Stock des Spitals angekommen, betritt von Grünigen ein Sitzungszimmer und stellt ihr Equipment ab. Kurz darauf steht Cordula in der Tür: Ein Stofftuch bedeckt ihren kahlen Kopf, über dem Ausschnitt des Unterleibchens ist ein Portkatheter für die Chemotherapie zu sehen. Auf dem Infusionsständer sitzt ein Tintenfisch aus Plüsch. «Das ist Tinti», sagt Cordula nach der Begrüssung. Sie hat ihn von ihren Kindern bekommen. Tinti lässt sich umstülpen. Je nach Stimmung zeigt er ein fröhliches oder ein trauriges Gesicht.
Heute ist Cordula traurig. Sie wäre lieber daheim. Auf ihrem Stock sind viele Krebspatienten. Zerfall und Lebensende sind sichtbar. «Ich will nicht, dass mich meine Kinder so dahinvegetieren sehen», sagt Cordula. Ob sie sich mit Exit beschäftigt habe, fragt von Grünigen. «Nein, aber vielleicht sollte ich das.»
Aus einem erfüllten Leben
Cordula hat sich einige Wochen zuvor bei Franziska von Grünigen und dem Verein Hörschatz gemeldet. Dieser ermöglicht es schwer erkrankten Müttern und Vätern, ihren minderjährigen Kindern und anderen Familienangehörigen eine Erinnerung zu hinterlassen. In eigenen Worten erzählen sie, was von ihnen bleiben soll.
Gegründet wurde der Verein von Franziska von Grünigen und der Journalistin Gabriela Meissner im Jahr 2020. Auslöser war ein Filmbeitrag über das «Familienhörbuch», das Pendant aus Deutschland. Meissner, die damals für eine Palliativorganisation arbeitete, veröffentlichte den Beitrag in den sozialen Medien. Von Grünigen fing sofort Feuer.
Über zwanzig Jahre hatte die Winterthurerin bis dahin für Radio und Fernsehen gearbeitet. Ihre Stimme kennt man aus Sendungen wie «Focus» oder «SRF3 WochenRundShow». Für SRF produzierte sie über viele Jahre «nachtwach» mit Barbara Bürer. Nach der Absetzung des Telefontalks wollte sie sich neu orientieren. «Als ich den Film über das ‹Familienhörbuch› sah, wusste ich – das will ich machen. Das ist die Brücke zwischen meinem Radiohandwerk und meinem Interesse an den Themen Tod und Trauerarbeit.»

Die Lebensgeschichten der Hörschatz-Mütter und -Väter kommen auf einen USB-Stick in Herzform.
Seither haben von Grünigen und Meissner gegen 60 Hörschätze aufgenommen. Die Nachfrage steigt. Für Betroffene sind die Hörschätze kostenlos; die Aufträge werden durch Spendengelder und Fundraising finanziert. Für das Radio arbeitet von Grünigen mit einem kleinen Pensum. Daneben hat sie zwei weitere Projekte: Unter dem Titel «Mein Nachklang» zeichnet sie Lebensgeschichten von Personen ausserhalb der Hörschatz-Zielgruppe auf. Im Podcast «My Last Goodbye» geht es um Beerdigungen.
Im elften Stock des Badener Spitals schlägt Cordula ihr Notizbuch auf. Von Grünigen richtet das Mikrofon ein, setzt die Kopfhörer auf, und nach einem Tontest mit einer Frage über das Spitalessen geht es los mit den Audioaufnahmen: Wie war deine Kindheit? Wie war dein Verhältnis zu den Eltern? Wie warst du als Teenagerin, wann hast du dich zum ersten Mal verliebt?
Cordula spielt mit dem Stoffband ihres Notizbuchs, schaut gedankenverloren aus dem Fenster, lächelt und erzählt. Über ihre Kuscheltiere, von denen eines juckte. Von ihrer Jugend und den Schlaghosen, die heute wieder in Mode sind.
Von Grünigen hört zu und hakt nach: «Die Kinder mögen deine Älplermakronen? Möchtest du beschreiben, wie du sie kochst?» – «Dein Lieblingsfilm ist ‹Drei Haselnüsse für Aschenbrödel›? Möchtest du die Titelmelodie summen?»
«Irgendwann fliesst es. Es ist schön, auf das Leben zurückzuschauen.» Cordula
Cordulas Krankheit tritt in den Hintergrund, in den Vordergrund rücken Momentaufnahmen eines erfüllten Lebens. Viele Höhen und wenige Tiefen werden festgehalten. Darunter auch vermeintlich Nebensächliches, kleine Anekdoten. Etwa über einen Ladendiebstahl, bei dem Cordula erwischt wurde. Ganz schlecht habe sie sich danach gefühlt. Doch ihre Eltern hätten gut reagiert. Von Grünigen lobt: «Du machst es super, du erzählst von dir. Das ist besser, als wenn du den Kindern sagst, dass sie nicht stehlen dürfen.»
Die beiden Frauen lachen viel. Manchmal fliessen auch Tränen – als Cordula erzählt, dass eine Bekannte, die gleich heisst wie sie, vor einem Jahr an Krebs gestorben sei. «Weine, lass dir Zeit», sagt von Grünigen ruhig und hält ihr ein Kleenex hin.
Dann geht es weiter: Wie war es für dich, als du die Mens bekommen hast? Wie hast du deinen Mann kennengelernt? Was bedeutet Liebe für dich?
Nach mehr als drei Stunden, unterbrochen nur durch eine kurze Pause, machen die beiden Schluss für heute. «Ich habe es mir anstrengender vorgestellt», sagt Cordula. «Irgendwann fliesst es. Es ist schön, auf das Leben zurückzuschauen. Es wird einem bewusst, wie reich es war.» Bis zum nächsten Treffen soll sich Cordula überlegen, welche Kapitel sie noch aufnehmen will. Dann verabschieden sich die zwei mit einer Umarmung.
Ein Gespür für die richtigen Worte
Das Thema Tod hat Franziska von Grünigen schon immer beschäftigt. Als Kind hatte sie oft Angst, dass Menschen, die ihr lieb sind, ihretwegen umkommen könnten; dass die Eltern bei einem Autounfall sterben, wenn sie sie abholen. Diese Furcht habe sie lange begleitet. Bis sie realisierte, dass die Angst nachlässt, wenn sie sich mit dem Sterben auseinandersetzt. Sie begann, darüber zu lesen und zu reden. Und war fasziniert.
Wegweisend war für sie die Arbeit von Kerstin Birkeland, die sie 2011 in einem «Focus»-Gespräch interviewte. Birkeland hat nach dem Tod ihres Sohnes einen Verein gegründet, der für ähnlich betroffene Eltern ihre schwerkranken oder gestorbenen Kinder fotografiert. Birkeland habe sie ermutigt, Worte zu finden für etwas, das zwangsläufig kommt: der Tod. «Es gibt nichts Schlimmeres, als das Sterben zu ignorieren. Oder zu schweigen, wenn jemand in Trauer ist. Jeder Satz ist dann besser als keiner.»
Diesem Grundsatz folgt sie auch bei ihrer Arbeit. «Wenn ich Menschen für Hörschatz-Aufnahmen begegne, müssen wir nicht um den heissen Brei herumreden. Die tödliche Diagnose ist schliesslich der Anlass für unser Treffen.» Ihr Vorteil sei, dass sie nicht zur Familie gehöre und von aussen komme. Fällt ihr bei den Interviews etwas auf, sei es eine Ungereimtheit oder ein fehlendes Puzzleteil, spricht sie es umgehend an, interessiert und ohne zu urteilen. Sie habe ein gutes Gespür für die richtigen Worte, sagt ein Freund über von Grünigen. Und er kenne niemanden, der so authentisch sei.
«Ich frage mich schneller: Was habe ich da für eine Delle am Bein? Ist das vielleicht Krebs?» Franziska von Grünigen
Die Schicksale der Hörschatz-Familien gehen ihr dennoch nahe. Die betroffenen Mütter und Väter sind oft in ihrem Alter und haben Kinder, die etwa gleich alt wie ihr Sohn und ihre Tochter sind. «Manchmal habe ich eine etwas verzerrte Optik und den Eindruck, es sei die Regel, dass Menschen mit 45 sterben. Es scheint dann ein Wunder zu sein, dass ich noch nicht Krebs habe.» Seit sie diese Arbeit mache, sei sie hypochondrischer geworden. «Ich frage mich schneller: Was habe ich da für eine Delle am Bein? Ist das vielleicht Krebs?»
In Interviews wie heute helfe ihr, sich bewusst zu machen, dass es nun um die Geschichte des Gegenübers geht, nicht um ihre eigene. Als Cordula erzählte, dass sie mit ihrem Vater Bud-Spencer-Filme geschaut und danach imaginäre Boxkämpfe ausgetragen habe, musste sich von Grünigen eine Träne wegwischen. «Die Anekdote hat mich stark an meinen Vater erinnert», sagt sie später. «In solchen Situationen merke ich, dass sich Cordulas Geschichte mit meiner vermischt. Dann muss ich schnell wieder zu meinem Gegenüber.»
Auch hier hilft von Grünigen ein Ritual: Wenn sie nach Hörschatz-Terminen nach Hause kommt, sichert sie zunächst die Aufnahmen, dann geht sie unter die Dusche. «Nicht weil ich mich schmutzig fühle. Es hilft mir, neu zu starten.» Die Hörschatz-Gespräche bleiben in der Regel vor der Tür. Nur mit ihrem Partner redet sie gelegentlich darüber.
Einen Monat später besucht von Grünigen Cordula erneut. Diesmal bei ihr zu Hause, in einem kleinen, grünen Familienquartier mit Kinderspielplatz. Cordulas Haare sind inzwischen zu Stoppeln gewachsen. Sie sieht gesund aus. Ihr Mann schläft für die Nachtschicht vor, die Kinder sind bei den Grosseltern. Am Eingang steht ein Schulthek, an der Wand hängen Kinderzeichnungen und Familienfotos.
Am Esstisch richtet sich von Grünigen für die letzten Aufnahmen ein: Vorwort, Nachwort, Ergänzungen zu den bisherigen Kapiteln und Musikwahl. Nach der Bud-Spencer-Episode soll «Volare» von den Gipsy Kings ertönen. Wenn Cordula ihren Vater, einen Tierarzt, begleiten durfte, liess er oft dieses Lied spielen. Auch «De Pizzaiolo» von der Stubete Gäng soll in den Hörschatz. Dieses Lied hörten Kinder und Mann jeweils, nachdem sie Cordula im Spital besucht hatten. Danach gab es Pizza.
Wieder spricht Cordula fliessend aus ihrem Leben ins Mikrofon. Im Nachwort sagt sie: «Es ist schön, dass ihr Teil meines Lebens wart. Ich hoffe, ihr hört es euch an.» Dann schielt sie auf den Deckel des Hörschatz-Kistchens, auf dem später ein Herz mit Faden zu sehen sein wird. «Denkt daran», sagt Cordula: «Der Herzli-Faden reisst nie ab, er ist unendlich lang.»
«Du hast es geschafft», ruft von Grünigen und klatscht. Sie zieht die Kopfhörer ab und bedankt sich bei Cordula. «Wie war es für dich?» Cordula denkt eine Weile nach und antwortet: «Es war streng, aber ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Ich fühle mich befreit.»
«Was brauchst du, um in Frieden zu gehen?» fragt von Grünigen. «Was mich am meisten beschäftigt, ist das Loslassen» – «Könntest du es jetzt?» – «Ich glaube schon, auch wenn es natürlich viel zu früh ist. Wichtig ist mir, dass den Kindern gut geschaut wird.»
«Chropfleerete»
Wie nach jedem Hörschatz-Termin wird Franziska von Grünigen ihrer Kollegin Gabriela Meissner eine Sprachnachricht hinterlassen. Eine «Chropfleerete», ohne Anspruch, gleich abgehört oder beantwortet zu werden.
Die Sprachnachricht kann sich traurig, munter oder erschöpft anhören. Nicht immer verlaufen die Aufnahmen so reibungslos wie bei Cordula. Bei manchen Hörschatz-Müttern und -Vätern ist die Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass die letzten Episoden am Sterbebett aufgenommen werden und Schmerz, Verwirrung oder Angst nicht zu überhören sind. Bei Markus zum Beispiel, einem Hörschatz-Vater mit Hirntumor, liefen die ersten Aufnahmen problemlos, die letzten Minuten mussten jedoch hart erarbeitet werden. Er hatte Mühe, Worte zu finden. Das war vor einem halben Jahr.
Nun trifft ihn von Grünigen in Zürich zu einem Freundschaftsbesuch. Wie mit vielen betroffenen Müttern und Vätern bleibt von Grünigen auch nach der Übergabe des Hörschatzes in Kontakt. «Durch die persönlichen Gespräche entsteht oft eine Beziehung», sagt sie. «Ich könnte diese Verbindung nicht einfach so abbrechen.»
Als von Grünigen ankommt, winken ihr Markus und seine Frau Sibylle zu. Markus sitzt inzwischen im Rollstuhl. Weil er doppelt sieht, trägt er eine Augenklappe. Von Grünigen fragt ihn auf dem Weg zu einem Bistro, wie es ihm geht. Er versucht zu antworten, doch seine Wörter ergeben keinen Sinn. Neuneinhalb Stunden Hörschatz hätten sie sich vor kurzem zusammen angehört, sagt Sibylle. «Es war schön, Markus zu hören, als er noch sprechen konnte.»
Im Bistro legt von Grünigen ein Geschenk auf den Tisch. Mit Sibylles Hilfe öffnet Markus das Päckchen. Ein eingerahmtes Foto. Das Bild zeigt ihn bei einer Hörschatz-Aufnahme. Er sitzt aufrecht vor dem Mikrofon und schaut gedankenverloren an die Decke. Seine Krankheit ist nicht sichtbar.
Markus nimmt das Foto zu sich und möchte sich bedanken. Sibylle streicht ihm sanft über den Ellbogen. Doch so sehr er sich anstrengt, es ist kein Wort zu verstehen. Er windet sich und schüttelt den Kopf.
Schweigen am Tisch. Dann muss Markus auf die Toilette. Von Grünigen schaut ins Leere, dann sagt sie: «Es ist brutal, was diese Krankheit anrichtet.»
Kurz nachdem Markus und Sibylle zurück sind, fragt von Grünigen die Runde, ob es okay wäre, wenn sie in einer halben Stunde den Zug nehmen würde. Ihr Sohn geht am Abend ins Fussballtraining. «Meine Tochter ist dann allein. Ich möchte ein wenig Zeit mit ihr verbringen.» Ein Schritt zurück ins eigene Leben.
Mitfühlen statt mitleiden
Wenn Franziska von Grünigen frei hat, verbringt sie die Zeit mit ihrer Familie. Ausgleich findet sie gelegentlich beim 5-Rhythmus-Tanzen, einer Form von Bewegungsmeditation. Seit sie vor vier Jahren damit angefangen habe, sei sie freier und selbstbewusster geworden. Davor hätten sie oft Selbstzweifel geplagt.
«Ich hatte immer Leute, die viel mehr an mich glaubten als ich an mich selbst.» Heute wisse sie, was sie könne und wolle. «Ich setze mir keine Lebensziele. Ich schaue mehr darauf, wo mich Energie und Lust hinziehen.» Sie liebt ihre Arbeit. Dass ihr dabei so viel Vertrauen entgegengebracht wird, dass sie Lebensgeschichten hören kann, darunter Dinge, die noch niemand sonst gehört hat, empfindet sie als grosses Privileg.
«Wir sehen unsere Arbeit nicht als selbstloses Opfer.» Gabriela Meissner
Das sieht auch von Grünigens Kollegin Gabriela Meissner so. «Wir sind nur für eine bestimmte Zeit bei den Hörschatz-Vätern und -Müttern und können immer wieder in unser eigenes Leben zurück. Wir haben eine klare Aufgabe, das macht es etwas einfacher.»
Die Geschichten der Betroffenen beschäftigten sie zwar und manchmal sei man traurig über die Schicksale der Familien, aber es sei keine andauernde Belastung. Meissner beschreibt es als ein Mitfühlen, kein Mitleiden. «Wir sehen unsere Arbeit nicht als selbstloses Opfer. Wir interessieren uns beide für das Leben. Und zum Leben gehört der Tod.»
Später schickt von Grünigen eine SMS: «Hier noch der Soundtrack zu meiner Arbeit.» Das Lied «Erzähle mir deine Geschichte» von Keno habe sie sehr berührt. «Es bringt meine Arbeit voll auf den Punkt.»
Keno singt:
Worüber hast du zuletzt gelacht und
Über was zu lange nachgedacht
Was ist das Dümmste das du je getan hast
Was ist deine Superkraft
Wonach roch deine Kindheit
Wie lange dauert’s noch
Worauf kannst du unmöglich verzichten
Und für wen tust du’s doch
Was ist deine Geschichte
Was hast du erlebt
Was zählt
Was möchtest du ändern
Was hat dich wirklich bewegt
Wie’s auch gewesen
Was auch geworden ist
Das Ergebnis sind wir
Hier
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Nach der Recherche für diesen Text, eineinhalb Wochen nach dem Treffen in Zürich, erhält Franziska von Grünigen von Sibylle die Nachricht, dass Hörschatz-Vater Markus gestorben ist. Auf Wunsch der Hinterbliebenen wurden die Namen geändert.