Meine schönste Kindheitserinnerung ans Skifahren ist der Tag, an dem ich nicht fahren musste. Zu verdanken habe ich ihn meiner Grossmutter. Ich war etwa fünf Jahre alt, hatte gerade das Skifahren gelernt und es gefiel mir kein bisschen. Die steilen Hänge der Zentralalpen machten mir Angst, und dass es meinen Cousins, Cousinen und Geschwistern, die entweder nur wenig älter oder sogar jünger waren als ich, so viel leichter zu fallen schien, machte die Sache nicht gerade besser.
Die Skiferien standen bei uns zuhause allerdings nicht zur Diskussion, und meistens fuhren wir alle zusammen als Grossfamilie – Tanten, Onkel, Grosseltern, mindestens zehn Leute. Bei mir dachte man wohl irgendwie, die Freude am Fahren werde sich mit der Zeit noch einstellen, und so fuhr ich jedes Mal mit nach oben und – meist sehr zäh – wieder runter.
Als ich an jenem Morgen mit meiner Grossmutter zu zweit in einem Sessellift sass, muss ich wohl besonders verängstigt auf die weissen Abhänge unter uns geblickt haben. Jedenfalls waren wir schon fast beim Ausstieg angekommen, da blickte sie mich prüfend an und fragte in ihrem breiten, oberbayerischen Dialekt: «Magst ned?» Ich war verblüfft. Ich wusste nicht, dass «nicht Skifahren mögen» eine Option war. Ausserdem hatte ich doch kein Wort zu ihr gesagt. Was mich ausserdem überraschte: Es lag keine Wertung in ihrer Frage. Ich hätte auf der Stelle zu ihr sagen können, ich hasse Skifahren, und sie hätte es akzeptiert. Ich begriff sofort, dass es selten war, so wortlos verstanden zu werden. Und dann auch noch von einer Erwachsenen, die fast sechzig Jahre älter war als ich.
Ungehaltene Diskussionen führen
Meine Grossmutter hat sich in den 26 Jahren, die seitdem vergangen sind, körperlich sehr verändert. Was sie jedoch nicht verlernt hat: andere Meinungen zu respektieren, egal wie jung oder alt diejenigen sind, die sie äussern. Was mir bei ihr im Kontrast zu meiner restlichen Umwelt so deutlich auffällt, ist die Art, wie sie sich in Diskussionen verhält. Gerade jetzt vor Weihnachten, wo Menschen, die einander eigentlich sehr gern haben, wieder viel und laut und ungehalten diskutieren, was denn nun «richtig» und was «falsch» ist, frage ich mich, wie sie das macht. Und vor allem: ob man das mit dem Alter lernen kann.
Diesen Winter wird meine Grossmutter neunzig. Sie wohnt noch allein. Sie besteht auf den nachmittäglichen Kaffeekränzchen mit ihren Freundinnen (und ja, die Gruppe besteht ausschliesslich aus Frauen, die ihre Ehemänner überlebt haben) einmal pro Woche. Sie hat acht Enkel, neun Urenkel und einen nie enden wollenden Vorrat an einem simplen, manchmal etwas matschigen Rührkuchen im Gefrierschrank, den sie auftaut, wenn Besuch kommt. (Die Bitten, sie müsse keinen Kuchen auftauen, überhört sie geflissentlich.) Und sie ist noch fit im Kopf, wie man so sagt; man kann sich mit ihr über alles unterhalten.
Wie Milliarden anderer Enkelinnen besuche ich sie viel zu selten. Seit ich Anfang des Jahres für meinen Beruf in die Schweiz gezogen bin, noch viel weniger als vorher (und auch da habe ich sie schon viel zu selten gesehen, obwohl ich nur eine Dreiviertelstunde entfernt von ihr in München gelebt habe). Übrigens macht sie mir deswegen nie ein schlechtes Gewissen. Weil sie aber doch 89 Jahre alt ist, ist es jedes Mal, wenn man sie sieht, als sei ein wenig mehr Leben aus ihr gewichen: Sie ist sichtbar ein paar Pfund leichter, ein paar Zentimeter kleiner als beim letzten Mal. Sie hört schlechter. Sie setzt sich sehr langsam hin und steht noch langsamer auf. Und als ich beim letzten Besuch nach dem Kuchenessen die Teller abgespült habe, hat sie das erste Mal, seit ich mich erinnern kann, nicht protestiert.
Aussterbende Art der Debattenkultur
Mein Mitbewohner in Zürich, ein Argentinier, sagt, bei ihm zuhause vergleiche man diesen Zustand von alten Menschen mit einer herunterbrennenden Kerze. Ein schöner Vergleich, der allerdings schon das nächste, unausgesprochene Bild beinhaltet: Irgendwann hört die Kerze auf zu brennen. Aus diesem Grund kann ich unmöglich mit meiner Grossmutter darüber sprechen, dass ich diesen Text schreibe. Sie hat verdient, dass ich ihr gegenüber respektvoll genug bin, nicht auch noch ständig den Tod anzusprechen, an den sie vermutlich ohnehin jeden Tag denkt. Aber weil sie für mich stellvertretend für eine Denkschule steht, von der ich glaube, dass sie langsam verloren geht, vielleicht sogar für eine aussterbende Art der Debattenkultur, muss ich doch von ihr erzählen.
Mit unserer Diskussionskultur stimmt vieles nicht, das war schon vor der Pandemie nichts Neues. Die Gesundheitskrise verhärtete die Fronten noch, diesmal auch innerhalb von Freundes- und Familienkreisen, die bislang dachten, sie würden sich auf ähnliche Wertvorstellungen berufen. Was Corona nun auf einmal sehr schmerzhaft und analog spürbar machte – der Gedanke des «ich will nichts mit dir zu tun haben, wenn du so denkst» (etwa, wenn du dich impfen/nicht impfen lässt) –, ist im Digitalen schon lange salonfähig. Die Autorin Meredith Haaf schrieb in ihrem Buch «Streit» bereits 2018 angesichts der erregten Gemüter in den Social Media:
«Die Menschen gehen sich mit ihren Differenzen immer intensiver auf die Nerven, und moderierende oder ausgleichende Elemente fehlen.» Meredith Haaf
«Überall herrscht eine fatale Unlust daran, auf Gegenmeinungen einzugehen oder sie auch nur anzuhören. Die Menschen gehen sich mit ihren Differenzen immer intensiver auf die Nerven, und moderierende oder ausgleichende Elemente fehlen.» Das Vergreifen im Tonfall sei gewohnheitsmässig geworden, schreibt Haaf, Einschüchterung nur eine der Folgen. Meine Grossmutter wirkt inmitten dieser Diskussionskultur auf mich wie ein weiblicher König Salomo.
Sie wird nicht aufbrausend. Sie fühlt sich nicht angegriffen, wenn ich anderer Meinung bin als sie. Dabei spricht sie natürlich wie jemand, der heute in sozialen Netzwerken einen Shitstorm für seine Wortwahl abbekommen würde. Sie macht zum Beispiel keinen Unterschied zwischen dem Wort «Flüchtlinge» und «Ausländer»; dass ich schon das Wort «Flüchtlinge» problematisch finde und sie standhaft korrigiere und von «Geflüchteten» spreche, versteht sie nicht. Sie wertet die Menschen ja nicht nach ihrer Herkunft. Aber sie weiss, dass es weniger auf die Wortwahl ankommt als darauf, dass wir sowohl gleicher als auch unterschiedlicher Meinung sein dürfen. Und dass, wer sich unterschiedliche Ansichten anhört, eher etwas dazugewinnt als verliert.
Bei mir ist das anders. In Gesprächen, in denen ich anderer Meinung bin als die anderen, werde ich entweder sehr leise und ziehe mich zurück – oder sehr laut. Dann schäme ich mich hinterher dafür. (Auch, wenn ich in Sachen Diplomatie und Zurückhaltung, seit ich in der Schweiz lebe, nochmal dazugelernt habe.) Und doch argumentiere ich häufig eher emotional als inhaltlich. Ich habe manchmal Angst, dass das im Alter noch schlimmer wird und ich noch uneinsichtiger werde. Wenn ich die Generation meiner Eltern manchmal so ansehe, dann ist das, fürchte ich, doch eine berechtigte Sorge. Kann man es irgendwie schaffen, im Alter nicht sturer, sondern barmherziger zu werden? Gibt es so etwas wie «Altersmilde» überhaupt? Gibt es Erfahrungen, die unsere Geduld und Offenheit gegenüber Dingen schulen, die wir anders sehen?
Erfahrung, Resilienz
Ich rufe bei der Soziologin Sabina Misoch an, um sie genau das zu fragen. Die Professorin leitet das Institut für Altersforschung an der Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen. Sie spricht mit einer warmen Stimme und ist eine jener Wissenschaftlerinnen, die ihr jahrelang angehäuftes Wissen ohne grosse Mühe in eine verständliche Sprache übersetzen können. Und sie erklärt mir ein paar Dinge, die ich nicht bedacht hatte.
Das erste: Erlebnisse, die eine Generation wie meine oder die meiner Eltern als «unerträglich» empfindet – zum Beispiel die gegenwärtigen Diskussionen um Grundrechtseinschränkungen in der Coronakrise –, relativieren sich, wenn man neunzig Jahre Lebens- und Krisenerfahrung und einen Weltkrieg miterlebt hat. Das leuchtet mir ein. «Wenn etwas Dramatisches passiert, dann wissen Menschen, die schon dreimal etwas Dramatisches überstanden haben, sie werden es auch ein viertes Mal überstehen.» Der Erfahrungsschatz sei im hohen Alter ein ganz anderer, von der Resilienz ganz zu schweigen.
Das macht es natürlich einfacher, andere Standpunkte als den eigenen zu akzeptieren. Ich denke an ein Gespräch, das ich Anfang Jahr mit meiner Grossmutter führte. Wir sassen vor dem berüchtigten Rührkuchen am Tisch und sprachen über Menschen, die wegen des kalten Winters auf dem Balkan zu erfrieren drohten. Wenige Wochen zuvor war es in den Nachrichten viel um die Aufnahme von Geflüchteten aus dem ehemaligen griechischen Flüchtlingslager Moria gegangen. Meine Grossmutter sagte plötzlich: «So einfach ist das nicht.»
Ich wappnete mich innerlich, ihr zu widersprechen, weil ich zu wissen meinte, was jetzt kommen würde: das Narrativ der Geflüchteten, die uns den Wohlstand wegnehmen, der Satz «wir können nicht alle aufnehmen» oder irgendeine Variation davon; etwas, was die alten Menschen, die konservativ wählen, zu denen ich meine Grossmutter auch zähle, nun mal so reden.
Stattdessen führte sie das Gespräch in eine ganz andere Richtung. Und begann zu erzählen, wie es war, als während des Zweiten Weltkriegs Kinder aus der Stadt zu ihrer Familie aufs Land geschickt wurden, um ihr Überleben zu sichern. Flucht und Vertreibung sei etwas, das sich niemand aussucht, dessen sei sie sich sicher. Ich stimmte ihr zu. Und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob es meiner Generation der in Mitteleuropa aufgewachsenen Dreissigjährigen (und der Generation meiner Eltern, die ebenfalls nur in den seltensten Fällen Flucht und Vertreibung erlebt haben) einfach zu gut geht.

Die Autorin Theresa Hein fuhr als Kind lieber Schlitten.
Nun war meine Grossmutter aber schon immer ein eher toleranter Mensch. Und das ist ihr grosser Vorteil, denn Erfahrung ist nicht das einzige, das Einfluss auf unsere Entwicklung im Alter hat. In der heutigen Forschung geht man davon aus, dass sich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale im Alter verstärken. Oder, wie die Soziologin Sabina Misoch es mir zusammenfasst: «Wer nie offen für Neues war, wird das sehr wahrscheinlich auch mit achtzig nicht sein.»
Verstärkt werden kann diese Disposition dann auch dadurch, dass es an Kommunikation mangelt: Jemand, der lange isoliert lebt und wenig sozialen Austausch üben kann, für den kann es schwieriger werden, Offenheit für neue Lebensumstände aufzubringen. Meine Grossmutter hat nun das Glück, dass sich die ihr gegebene Eigenschaft der Toleranz verstärkt zu haben scheint; zumindest hat sie sich nicht nennenswert verringert. Auch mit 89 Jahren ist ihr moralischer Kompass, die Grundsätze, nach denen sie lebt und an die sie glaubt, felsenfest und unverrückbar in ihr verankert.
Altern erleichtern
Das hängt nicht zuletzt auch damit zusammen, wie man zufrieden alt wird. Jeder kennt Menschen, die sich nur auf das Negative konzentrieren; das muss keine altersspezifische Frage sein. Ich kenne Leute, die Anfang dreissig sind und davon überzeugt zu sein scheinen, die Welt wolle ihnen nur Böses. Rückenschmerzen und schlechter werdendes Augenlicht sind, wie gegensätzliche Meinungen, Dinge, mit denen man zurechtzukommen lernen muss – und wir haben nicht die geringste Lust dazu. Dazu kommt noch das, was der US-amerikanische Neurowissenschaftler Adam Gazzaley «Kognitionskrise» nennt: der Umstand, dass unser Gehirn der Welt, die sich derart rasch verändert wie unsere, kaum zu folgen vermag.
Ich kann gegen das Altern nichts tun. Und nicht jeder Mensch kann mit einer angeborenen Ruhe gesegnet sein. Aber ich kann etwas daran ändern, wie sich das Altwerden gestaltet: Bitterkeit und Sturheit liegen nah beieinander. Die Soziologin Sabina Misoch verweist darauf, wie wichtig sozialpsychologische Faktoren in Hinblick auf zufriedenes Altern seien. «Religion oder eine andere Form von Spiritualität können sehr helfen, weil man die eigenen Probleme oder Konfliktfragen – zum Beispiel in Form eines Gebets – jemand anderem übergeben kann. Das kann helfen, Stress zu reduzieren.»
Andere wichtige Faktoren seien soziale Inklusion in Form einer Gruppe oder der Familie. «Wenn ich einen Grund habe, warum ich weiterleben möchte, der mich, wie man im Schweizerdeutschen sagt, ‹gwundrig› macht, fällt es leichter, sich mit dem Prozess des Alterns auseinanderzusetzen. Der Mensch braucht ein Interesse, das ihn im Alter mit Sinn und Freude füllt: Lesen, Engagiertsein, ein Kartenspiel, eine Stickereiaufgabe.» Am besten, der Sinn und die Freude kommen noch mit sozialer Interaktion zusammen: Es gebe, sagt Misoch, genügend Studien, die zeigen, dass einsame Menschen früher sterben. «Ich würde so weit gehen zu sagen, sie sterben nicht nur früher, sondern auch trauriger.» Die Befürchtung, im Alter zum Sturkopf zu werden, muss also keine «self-fulfilling prophecy» sein.
Wer sich mit anderen Meinungen und Standpunkten auseinandersetzt, der hört immerhin nicht auf, etwas dazuzulernen.
Wer sich mit anderen Meinungen und Standpunkten auseinandersetzt (dafür muss man sich ihnen allerdings zuerst einmal aussetzen), der hört immerhin nicht auf, etwas dazuzulernen. Wer darauf achtet, sich beim Altern nicht auf das Negative zu konzentrieren (Falten), sondern auf den Gewinn (Erfahrung), dem wird es leichter fallen, den Prozess des Alterns zu akzeptieren; auch, wenn das vermutlich eine sehr schwierige Aufgabe ist.
Und trotz dem Austausch, den Nachrichten und den gegensätzlichen Meinungen, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind, kann es gelingen (wie es meiner Grossmutter gelingt), sich in Dingen, deren man moralisch sicher ist, nicht beirren oder vereinnahmen zu lassen: In der Beurteilung dessen, was einen guten Menschen ausmacht, zum Beispiel. Der Rest ist ziemlich egal.
Was nun wirklich nicht zu ändern ist, ist die Tatsache, dass meine Grossmutter nicht mehr sehr lange leben wird. «Dein Tod war angekündigt, das Leben ging dir aus», singt Dirk von Lowtzow. Ich kann den Tod nicht aufhalten, aber ich kann dafür sorgen, dass die Offenheit und Toleranz, die meine Grossmutter mir vorgelebt hat, nicht mit ihr «ausgeht».
«Musst ned»
An jenem Tag in den Alpen in den Skiferien, als meine Grossmutter mich angesichts meines ängstlichen Blicks in die Tiefe fragte: «Magst ned?», wartete sie gar nicht erst auf meine Antwort, sondern antwortete für mich: «Musst ned», sagte sie und winkte ab. Daraufhin winkte sie fröhlich meiner wartenden Verwandtschaft aus dem Sessellift zu und bedeutete dem Mann in der Liftstation, wir würden wieder nach unten fahren. Der Lift fuhr um die Kurve, trat den Rückweg an und wir mit ihm. Als ich meiner Grossmutter einmal sagte, dass die Erinnerung mit dem Sessellift eine meiner liebsten Kindheitserinnerungen sei, sagte sie nur, das sei doch nichts Besonderes gewesen.
So selbstverständlich war und ist es für sie, den ganzen Weg mitzugehen, wenn man jemanden gerne hat. Wenn es sein muss, auch mal in die entgegengesetzte Richtung.