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Illustration: Silke Werzinger
Freitag, 17. März 2023

In meiner schönsten Kindheitserinnerung sitze ich mit unserem Schäferhund in der Hundehütte. Mein Vater hat sie mit Teppich ausgekleidet. Durch die kleine Öffnung dringt nur wenig Licht herein. Kaum ein Geräusch ist zu hören. Hier drinnen kann mir die Welt nichts anhaben. Was ausserhalb der Hütte passiert, kann ich dagegen nur mit Mühe verarbeiten. Allgegenwärtiger Lärm, brennendes Licht, stechende Gerüche – alles stürmt auf mich ein. Dazu die vielen Menschen. Ihr Miteinander gleicht einem sozialen Tanz, dessen Schrittfolge sich mir nicht erschliesst. Schon damals begreife ich nicht, wie andere das aushalten.

Ich muss mich einfach mehr anstrengen, denke ich. Weniger ich sein. «Ich bin gar nicht da. Ich bin nur eine Idee», schreibe ich mit vierzehn in mein Tagebuch. Mit siebzehn ertrage ich kaum einen Tag ohne Alkohol. Mit achtzehn versuche ich, mir das Leben zu nehmen. Heute, zwanzig Jahre später, weiss ich: Ich bin Autist.

«Dann hast du aber eine ziemlich schlechte Berufswahl getroffen», meinte ein Freund, als ich ihm von meiner Diagnose erzählte. Ich kann ihm die Aussage nicht verdenken. Meine Arbeit als Pfarrer bringt viele Begegnungen mit sich und verlangt einiges an Feingefühl. Ein «emotionsloser Autist, der in seiner eigenen Welt lebt», wirkt da wie eine ziemliche Fehlbesetzung. Allerdings ist dieses Bild nicht viel mehr als ein Klischee. Genährt wird es durch fiktive Figuren wie der des genialen, aber sozial eingeschränkten Dr. Shaun Murphy aus der Serie «The Good Doctor». Dafür, was Autismus wirklich ist, fehlt das Gespür.

Sonnenstrahlen wie Nadelstiche

In den 1940er Jahren fielen Leo Kanner und Hans Asperger Kinder auf, die sehr verschlossen wirkten. Sie alle hatten Schwie­rigkeiten in sozialen Situationen. Kanner nannte sie Autisten. Während er vor allem schwerbehinderte Kinder erforschte, galt das Interesse Aspergers jenen, die sich zunächst unauffällig entwickelten. Unabhängig voneinander vermuteten die beiden Mediziner psychische Gründe für die Entwicklungsstörung. Auch Theorien, wie fehlende Mutterliebe oder gar eine Impfung seien der Auslöser, hielten sich wacker. Beide sind heute genauso widerlegt wie die Vorstellung, Autismus könne geheilt werden. Wie genau Autismus entsteht, ist nicht restlos geklärt. Eine nicht unwesentliche Rolle dürften aber die Gene spielen.

Erst Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Erkenntnisse von Kanner, Asperger und anderen unter dem Label Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gebündelt. Spektrum deshalb, weil es uns Autisten in unzähligen, wunderbaren Variationen gibt. Manche von uns sprechen nicht, andere brauchen ein Leben lang Unterstützung, und wieder andere kommen von aussen betrachtet ziemlich gut über die Runden. Ein Sprichwort sagt: Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten. Auch meine Geschichte deckt nicht das ganze Spektrum ab. Sie ist eine von vielen.

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Meine Mutter erzählte früher oft, dass ich als Baby jede Nahrung verweigerte und sie deshalb schier verzweifelte. Nichts half. Die Rettung kam von einer einzigen Kuh vom benachbarten Bauernhof. Nur ihre Milch vertrug ich. Auch was das Sonnenlicht angeht, bin ich rasch reizbar. Schon als Kleinkind mied ich es wie der Teufel das Weihwasser. Es gibt ein Foto, auf dem ich dreijährig gut eingepackt mit Schirm und Hut posiere – an einem heissen Sommertag. Das grelle Licht fühlt sich nach wenigen Sekunden auf Augen und Haut wie brennende Nadelstiche an. Solche Gefühle nehmen mich so ein, dass jeder andere Gedanke undenkbar ist.

Mein Hirn ist auf eine Weise verkabelt, die Fachleute neurodivers nennen – in Abgrenzung zu neurotypisch. In den Reigen der Neurodiversität gehören neben Autismus auch AD(H)S, Dyskalkulie, Legasthenie, Dyspraxie und Hoch­begabung. Nicht selten trifft man bei neurodiversen Menschen gleich mehrere dieser Eigenschaften an.

Alles, was auf uns einprasselt, müssen wir aktiv verarbeiten. Und wenn es zu viel wird, machen wir dicht.

Neurotypische Menschen verfügen über einen eingebauten Filter, der unnötige oder störende Reize reguliert oder sogar ausblendet. Mir fehlt diese Software. Licht, Geräusche, Gerüche, Oberflächen und manchmal sogar Menschen – ich erlebe alles auf einmal und alles in gleicher Intensität. Und was davon ist jetzt wichtig? Während Neurotypen die Auswahl intuitiv treffen, muss ich sie aktiv errechnen.

Werden die Eindrücke zu viel, kann ich sie nicht mehr verar­beiten. Mein Hirn hängt sich auf und es kommt zum Stillstand – ein Shutdown. Wie damals, als ich im Getümmel des Pariser Hauptbahnhofs schlagartig weder sprechen noch gehen konnte. Hilfe erhielt ich von Freunden, die zwar nicht wussten, was vor sich ging, sich aber den Rest des Abends um mich kümmerten. Auch die gegenteilige Reaktion gibt es. War ich als Kind überreizt, rastete ich aus. Bis ins junge Erwachsenenalter kam es zu solchen Gewaltausbrüchen, die sich gegen mich selbst richteten. Heute weiss ich: Das war ein Meltdown.

Wenn die Reize zu viel werden, helfen sich Autistinnen mit Stimming – ein selbstregulierendes Verhalten, das uns erdet. Manche von uns flattern mit den Händen, andere schaukeln hin und her oder springen herum. Wieder andere geben Laute von sich oder halten einen vertrauten Gegenstand in den Händen. Mir hilft es, wenn ich die immer gleichen Lieder singen kann. Oder ich fahre mit den Fingern entlang der alten Römermünze, die ich mir als Kind in Augusta Raurica gekauft habe. Was für Aussenstehende wie irrationales und leider auch unerwünschtes Verhalten wirkt, ist in Wahrheit der Versuch, in einer lauten und schnellen Welt wieder Halt zu finden.

Ein Breakdancer beim Tango

Sinne sind ein Schlüsselelement, wenn es darum geht, Autismus zu verstehen. Zur Diagnose werden aber vor allem Defizite im sozialen Austausch herangezogen. Aus neurotypischer Sicht ist das logisch. Begegnung ist für Neurotypen die Voraussetzung jeden guten Lebens, etwas, dem sie sich mit Vorliebe hingeben. Mag jemand nicht in diese Euphorie einstimmen, fällt das auf.

Im Gleichschritt mit anderen tanzen ist schwierig, wenn man weder die Musik hört, noch die Bewegungen der anderen sieht. So fühlt sich für mich Smalltalk an. Was Neurotypen lieben, ist für mich ein einziges Rätsel. Gesichtsausdrücke zu lesen fällt mir schwer. Lachen erkenne ich als solches, Weinen auch – dazwischen ist vieles verschwommen. Es gibt so viele Signale, auf die man achten muss. Ein Grossteil der zwischenmenschlichen Kommunikation findet nonverbal statt.

Die Schwierigkeit, Gedanken und Gefühle von anderen richtig zu deuten, ist die Quelle des alten Vorurteils, Autisten würden nichts fühlen. Das ist Schwachsinn. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind nicht blockiert, weil wir nichts wahrnehmen, sondern weil wir zu viel wahrnehmen. Alles, was auf uns einprasselt, müssen wir aktiv verarbeiten. Und wenn es zu viel wird, machen wir dicht. Dass das nach neurotypischen Massstäben wenig sozialverträglich wirkt, leuchtet mir ein. Aber wenn man einen Breakdancer nach der Schrittfolge eines Tangos beurteilt, wird er zwangsläufig scheitern. Es gibt viele Wege zur Empathie. Die neurotypische Empathie ist nur eine davon.

Ja, wenn Menschen mir von schwierigen Situationen erzählen, fühle ich nicht intuitiv mit. Über die Jahre habe ich mir aber einen lebendigen Fundus an Erinnerungen und Gefühlen angelegt. Gerate ich also in eine vergleichbare Situation, kann ich auf dieses Archiv zurückgreifen. Und dieses Mitgefühl ist genauso aufrichtig. Mehr noch, mit vielen Autisten teile ich einen starken Sinn für Gerechtigkeit. Ich habe nicht nur echtes Mitgefühl, sondern auch das aktive Interesse, zu helfen. Deswegen bin ich Pfarrer geworden. Wenn das keine Empathie ist, weiss ich auch nicht.

Wenn Autistinnen einen Meltdown ­haben, heisst es: «Sie ist gerade ein wenig emotional.» Noch heute erhalten weniger Frauen als Männer eine Diagnose.

In einer Welt, die auf Tango getaktet ist, kommt keiner darum herum, die Schrittfolge zu lernen. Die Regeln des Miteinanders musste ich mir früh bewusst aneignen. Manches davon wurde mir auch eingebleut. Die Mahnung etwa, dass man die Leute ansieht, hörte ich als Kind öfters. In der Schulzeit ging gar das Gerücht um, dass nur Lügner anderen nicht in die Augen schauen können. Bis heute halte ich oft manisch den Blick – auch wenn sich mir nicht erschliesst, was höflich daran sein soll, fremde Augäpfel anzustarren.

Auch vieles andere, was «man» so tut, erscheint mir unlogisch. Begrüssungen und Verabschiedungen zum Beispiel. Wann schüttelt man die Hand? Wann kommen die drei Küsse zum Einsatz, und was genau unterscheidet sie von einer Umarmung? Was qualifiziert wen zu welcher Begrüssung, und wie kommuniziert man, wenn man das lieber nicht möchte? Für solche Situationen gibt es kein allgemeingültiges Regelwerk. Ein einziger Stress also.

Schon im Kindergarten suchte ich nach Mustern im Zwischenmenschlichen. Regeln, an die ich mich halten konnte. Eine meiner liebsten Beschäftigungen war das Beobachten der anderen Kinder. Durfte ich einmal nicht für mich alleine sein, bevorzugte ich es, mit Mädchen zu spielen. Zumindest damals gehörte es sich offenbar, dass Mädchen beim Spielen soziales Verhalten trainierten. Während die Jungs sich lauthals die Köpfe einschlugen, übten sich die Mädchen im Kochen, Einkaufen und Kaffeeklatsch. Ein unausgesprochenes soziales Korsett, das sich für mich als ausgezeichnetes Übungsfeld herausstellte.

Die Batterien auf Null

Asperger und Kanner konzentrierten sich in ihren Forschungen mehrheitlich auf Männer. Das befeuerte die Vorstellung, Autismus sei eine rein männliche Entwicklungsstörung. Diese Ansicht hält sich. Dass im Fernsehen neben Autisten auch vermehrt Autistinnen zu sehen sind, ändert sich erst seit Kurzem. Anders als Jungen lernen Mädchen früh, sich sozial anzupassen. Eine zurückhaltende Art gilt allgemein als ladylike. Und wenn Autistinnen später einen Meltdown ­haben, heisst es: «Sie ist gerade ein wenig emotional.» Noch heute erhalten weniger Frauen als Männer eine Diagnose. Laut dem Psychologen Devon Price sieht es bei People of Color oder queeren Menschen nicht viel anders aus. Auch sie seien in der Gesellschaft so darauf konditioniert, sich anzupassen, dass Autismus nur in den wenigsten Fällen diagnostiziert werde.

Die ­Meinung, dass Autisten allesamt humorlose Misanthropen sind, könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein.

Dass ein Geschlechtsteil darüber entscheidet, wer wir sind und was wir tun, hat mir nie eingeleuchtet. Als Junge trug ich mit Vorliebe pink. Im Vergleich zu meinen zwei Brüdern war ich der «Zarte», der lieber mit Barbie-Puppen als im Dreck spielte. Die Befürchtung, ich sei am Ende schwul, schwebte wie ein Damoklesschwert über der gutbürgerlichen Blase, in der ich aufwuchs. Ich verstand das Problem nicht. Warum sollte das eine besser als das andere sein? Und warum musste man sich überhaupt entscheiden?

Gesegnet mit Blindheit gegenüber klassischen Rollenbildern sind viele Autistinnen wesentlich flexibler, wenn es um Beziehungen und Sexualität geht. Das zeigt eine niederländische Studie von Reubs Walsh, selbst autistisch und transgender. 27 Prozent der Autistinnen und 12 Prozent der Autisten, die befragt wurden, bezeichneten sich als bisexuell. In der Gesamtbevölkerung sind es gerade mal 3 Prozent.

Meinen achten Geburtstag feierte ich mit meiner ganzen Klasse in einer Waldhütte. Das war der Plan, denn so macht man das schliesslich. Es endete in einem Desaster. Nach nicht einmal einer halben Stunde sass ich weinend und vollkommen überfordert allein hinter der Hütte.

Ich mag Menschen. Und ich gehöre gerne dazu. Die Meinung, dass Autisten allesamt humorlose Misanthropen sind, könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Aber während andere aus der Begegnung Kraft schöpfen, saugt sie uns welche ab – egal, wie nett das Gegenüber ist. Ich liebe es, Gottesdienste zu feiern. Trotzdem entlädt so ein Anlass meine soziale Batterie für mehrere Tage. Anlässe, die mich zwar interessieren, aber mit Workshops, Apéros und Interaktionen locken, besuche ich erst gar nicht. Zu unberechenbar. Vielen Autisten geht es ähnlich. Die Annahme, dass alle Socializing toll finden, kann auch Menschen ausschliessen. Im schlimmsten Fall ist der soziale Zwang sogar traumatisierend.

Das fängt schon in der Schule an. Chaotische Gruppenaufträge, zu nahe Rollenspiele, Klassenlager ohne Rückzugsmöglichkeit und lärmige Schuldiscos. «Spring halt über deinen Schatten», hiess es, wenn ich darum bat, etwas nicht machen zu müssen. Irgendwann fing ich an, mich zu verweigern. Ich machte­ ich selbst zu dem Clown, den die anderen ohnehin in mir sahen. Die Schulzeit verbrachte ich von da an mehrheitlich vor der Türe. Meine Noten fielen in den Keller.

Diejenigen, die mir geglaubt haben, kann ich an einer Hand abzählen:

Die Lehrerin in der dritten Klasse, die mich eines Morgens ohne grosse Worte an einem Einzelpult positionierte. Endlich konnte ich mich konzentrieren.

Der Lehrer in der Fünften, der mir im Schullager ein Zimmer nur für mich zuteilte. Es war eines der wenigen Lager ohne Meltdown.

Mein Klassenlehrer in der Zehnten, der seine Anweisungen stets klar formulierte und mir half, meinen eigenen Lernstil zu finden. Dank ihm wurde ich in nur einem Jahr von der Zielscheibe für Mobbing zum Klassenbesten.

Vom Funktionieren

Viele Autisten haben ein Spezialinteresse, in dem sie «bemerkenswerte Fähigkeiten» haben. So beschreibt es der Psychologe Tony Attwood. Von Pflanzenkunde bis Sprengstoff liegt alles drin. Mein Spezialinteresse ist das Wort – dasjenige von Gott genauso wie das der Menschen. Seit ich das erste Mal verstanden habe, dass man mit Wörtern ganze Welten erschaffen kann, lässt mich dieser Gedanke nicht mehr los. Sprichwörter und Redewendungen, die für viele Autisten ein Hindernis sind, haben es mir besonders angetan. Die Vieldeutigkeit der Sprache kann mich so begeistern, dass ich für Stunden alles andere vergesse. Beim Schreiben verliert die Welt etwas von ihrem Reiz, so dass ich sie besser in eine Ordnung bringen kann. Gedanken und Theorien systematisieren, das ist mir das Allerliebste.

Ihre Spezialinteressen haben Autistinnen den Ruf eingebracht, insgeheim Genies zu sein. Bei manchen ist gar von einer Inselbegabung die Rede. Und bei Betroffenen, die im Alltag gut angepasst sind, spricht man von «hochfunktionalem» Autismus. Solch grosse Worte führen allerdings auf einen schmalen Grat. Sie unterstellen, dass ein Autist etwas leisten kann, während ein anderer das nicht vermag. Wofür soll der denn bitte etwas leisten? Und was ist mit dem, der nicht «funktioniert», der offensichtlich kaputt ist? Ist der dann weniger wert?

Auch in meinem Gutachten steht «hochfunktionaler Autismus». Ich fühle mich aber nicht so. Ich funktioniere gerade so weit, dass ich schlau genug bin, meine Schwierigkeiten zu überspielen. Viele Bekannte reagierten erstaunt auf meine Diagnose: Autismus, das hätten sie nicht gedacht. Ich kann ihre Reaktion begreifen. Trotzdem tut sie mir weh. Sie zeigt, wie sehr ich mich selbst unsichtbar gemacht habe. Wie sehr ich funktioniert habe, anstatt zu leben.

Ja, ich bin in der Lage, Konversationen zu führen und für mich selber zu sorgen. Ich orchestriere ganze Gottesdienste, betreibe achtsame Seelsorge und gestalte einfühlsame Beerdigungen. Ich kann Augenkontakt halten und Klassenlager leiten. Ich denke, ich mache einen guten Job. Das ist das, was man sieht.

Aber dann gibt es da die Dinge, die kaum jemand sieht.

Bin ich alleine, vergesse ich zu essen. Ich habe kein Hungergefühl. Oft wird mir übel beim Gedanken daran, Nahrung aufzunehmen. Autisten nehmen ihren Körper und ihre Bedürfnisse häufig anders wahr.

Kleinste Planänderungen können mich für den Rest des Tages blockieren. Der autistische Hang zu repetitivem Verhalten lässt grüssen. Wiederholung gibt Sicherheit.

Nähe tut mir oft so weh, dass ich mit heftigen Ticks reagiere. Autistinnen werden nur ungern angefasst.

Ist der soziale Druck gross, verschlägt es mir gerne mal die Sprache. Selektiver Mutismus – so der Fachbegriff – ist keine Seltenheit.

Mein Hirn läuft ständig auf Hochtouren und analysiert die erlebten Begegnungen in Endlosschleife. Das autistische Faible für Systematisierung und Muster hält uns selbst wegen kleinster Details nächtelang wach.

Auf ungelöste Probleme reagiere ich nicht selten zwanghaft und verletzte mich selbst. Damit bin ich nicht alleine.

Das Pfarrhaus als Gefängnis

Als ich vor 14 Jahren zum Eignungsgespräch für die Pfarrausbildung antrat, fragte mich der Experte nach meiner psychischen Belastbarkeit. Wir sind ja hier in der Kirche, dachte ich und erzählte freiheraus von meinen Depressionen. Ehrlichkeit ist wichtig. Daraufhin riet er mir, das unbedingt für mich zu behalten. Jemand mit Depressionen sei für den Pfarrberuf nicht geeignet.

Wer in dieser Welt bestehen will, darf keine Schwächen zeigen. Anpassung ist das Gebot der Stunde. Um nicht aufzufallen, betreiben viele Autisten Masking. Sie kaschieren ihre Eigenarten so gut wie möglich. Das funktioniert so lange, wie es genügend Rückzugsmöglichkeiten gibt.

Für mein erstes Pfarramt, das ich mit meiner Frau Jasmin teilte, zogen wir vor sechs Jahren in eine wunderschöne, ländliche Gemeinde. Nur mit dem Rückzug war es dann vorbei. Denn das Leben im Pfarrhaus fühlte sich oft an wie ein Leben im sozialen Spotlight.

In eine Ecke gedrängt, gibt es drei Möglichkeiten zu reagieren: Flucht, Totstellen oder Angriff. Will man als Pfarrer den Job behalten, sind die ersten beiden keine Option. Um schwierige Situationen bestmöglich zu kontrollieren, habe ich sie deshalb direkt an mich gerissen. Ich ging proaktiv auf die Leute zu, um das Mass der Nähe zu steuern, machte Witze, um die Stimmung der anderen einzuordnen. Was offen und gesellig wirkte, war der Versuch, Herr der Lage zu bleiben. Gleichzeitig versuchte ich, alles Autistische an mir zu unterdrücken. Es war unglaublich anstrengend.

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Immer wieder holte ich zum Befreiungsschlag aus und verlor gleichzeitig den Mut. Was sollte ich denn sagen? Eine Diagnose hatte ich damals nicht. Meine Frau bat mich, zu schweigen. Aus Angst vor Benachteiligungen im Beruf. So isolierte ich mich noch mehr. Aussen und Innen standen bald einmal im krassen Widerspruch. So gerne ich meinen Beruf schon damals ausübte, so wenig erlaubte er mir Phasen der Regeneration. Ich fing an zu hassen, was ich eigentlich liebe. Das Pfarrhaus wurde zum Gefängnis.

Was ich gegenüber der Gemeinde mit aller Kraft unterdrückte, traf mein Privatleben mit immer grösserer Wucht. In meiner Beziehung hielt ich mich nie zurück. Jasmin musste vom ersten Tag mit einer Einschränkung umgehen, die wir beide nicht benennen konnten. Die ersten Jahre waren schwierig. Sie spontan und pragmatisch, ich planvoll und pedantisch. Nächtelang blieb sie wach und diskutierte mit mir Probleme aus, die für sie keine waren.

Auch meine Ehrlichkeit stellte unsere Beziehung auf eine harte Probe. Fragte sie nach einem Feedback für ihre Predigt, erhielt sie von mir eine umfassende Rückmeldung in Form eines komplett mit Rotstift korrigierten Skripts. Dann sass sie da und weinte, und ich verstand nicht, wieso.

Übersetzerin und Komplizin

Über viele Jahre war Jasmin die einzige Person, die alles auffing. In sozialen Situationen war sie meine Übersetzerin – meine Komplizin bei meinem grossen Vertuschungsversuch. Über die Jahre wurde sie mehr Betreuerin als Partnerin. Krankheiten und Behinderungen verändern nicht nur das Leben der Betroffenen. Autisten und Beziehungen, das ist so eine Sache. Nicht wenige von uns leben allein. Ich bin froh, es nicht zu tun.

Ob Autismus eine Behinderung, eine Erkrankung oder einfach ein anderer Zustand ist, lässt sich gar nicht so leicht beurteilen. Autisten, die im Alltag stark eingeschränkt sind, fühlen sich behindert. Andere lassen diese Bezeichnung für sich nicht gelten. Autist zu sein ist für sie zu einer lang gesuchten Identität geworden. Autistic and proud, lautet einer der Wahlsprüche in den sozialen Medien. Dennoch haben Autismus und Behinderung einiges gemeinsam. Bei beiden spielen auch die gesellschaftlichen Strukturen eine Rolle. Diese behindern, wovon Autistinnen ein Lied singen können. Man denke nur an das viel zu laute Kino, die dauerbeschallten Einkaufshäuser oder die grelle Beleuchtung an öffentlichen Plätzen.

Manche Geschäfte und Freizeiteinrichtungen bieten mittlerweile die «Stille Stunde» an. Dann wird das Licht gedimmt und der Lautsprecher ausgeschaltet. In der Schweiz gibt es dieses wichtige Angebot in einigen Spar-Filialen. Der Verein «Autismus deutsche Schweiz» organisiert regelmässig Kinovorführungen mit angepasster Lautstärke und Rückzugsräumen. Auch Friseurbesuche ohne Smalltalk soll es geben. Und die Möglichkeit, Essensbestellungen im Restaurant genauso digital zu machen wie den Termin beim Zahnarzt, ist ein w­underbarer Anfang. Bis aber in allen neurotypischen Köpfen ankommt, dass nicht jeder Gemeinschaft gleich erlebt, ist es noch ein weiter Weg.

Mit einem Schlag raste ich mit 180 Sachen durch die totale Finsternis.

Als Autistin in einer Welt zu leben, die für neurotypische Menschen gemacht ist, hat einen hohen Preis. Eine Studie des Max-Planck-Instituts von 2018 zeigt, dass 70 Prozent der befragten Autisten mindestens eine weitere Erkrankung haben. Angeführt wird das Feld von Depressionen, gefolgt von sozialen Phobien und Zwangserkrankungen. Alkohol- und Drogenmissbrauch sind genauso häufig wie Essstörungen. Eine Untersuchung des Psychologen Simon Baron-Cohen legt zudem eine andere Zahl offen: Zwei Drittel aller Autisten sind suizidgefährdet­, ein Drittel versucht, sich selbst zu töten.

Auch ich habe eine ganze Kaskade von Therapien und Diagnosen hinter mir. Keine hat so richtig gepasst. Dass ich Autist sein könnte, wurde erst deutlich, als alle Dämme brachen.

Beim Wechsel in eine andere Kirchgemeinde kam ich vom Regen in die Traufe. Ohne Jasmin war ich auf mich allein gestellt. Es war niemand mehr da, der beim Smalltalk die Lücken füllte und mir nach Sitzungen erklärte, was die anderen gemeint hatten. War ich überreizt, sprang niemand mehr für mich ein. Erschwerend kamen hinzu fast tägliche Planänderungen. Mit einem Schlag raste ich mit 180 Sachen durch die totale Finsternis. Ein Meltdown jagte den nächsten. Meine Schwierigkeiten liessen sich nicht mehr verbergen. Und eigentlich wollte ich das auch nicht mehr.

Als ich im vergangenen November meine Diagnose erhielt, war das eine Erlösung. Endlich sagte mir jemand, dass ich nicht falsch bin. Dass ich sein darf, wie ich bin. Allerdings trauerte ich auch. Darüber, dass mir mit einer früheren Diagnose vieles leichter gefallen wäre. Und wütend war ich. Über die vielen Male, in denen man mich nicht ernst nahm. Warum glauben wir einander unsere Schwierigkeiten erst, wenn sie auf einem offiziellen Schreiben stehen?

Ans Licht

Mit jedem Tag lerne ich mich besser kennen. All das, was ich an mir so viele Jahre gehasst und vor anderen versteckt habe, trage ich mehr und mehr nach aussen. Autistisch und stolz. Und ich lerne wieder neu, dass es sich lohnt, Menschen zu vertrauen. Ich traue mich ihnen zu.

Als ich mich im vergangenen Jahr bei meiner jetzigen Kirchgemeinde bewarb, spielte ich mit offenen Karten. Ein Wagnis, das sich auszahlte. Ich habe eine wunderbare Arbeitsstelle in einem rücksichtsvollen Team. Auch an der Universität, für mich jahrelang ein Leidensort, kann ich meinen Bedürfnissen endlich einen Namen geben. Dadurch wird vieles möglich, was vorher undenkbar war. Etwa eine Dissertation zum Thema Autismus und Theologie. Sowohl im Pfarramt wie in meinen Studien kann ich mir den Alltag nach meinen Bedürfnissen einteilen. Als gut verdienender Schweizer habe ich zudem Zugang zu diversen Therapieangeboten.

Von so einer Ausgangslage können andere nur träumen. Vielen bleibt eine Diagnose wegen überholter Rollenbilder verwehrt oder sie landen auf einer endlosen Warteliste. Wieder andere sind zu arm, um sich eine Abklärung überhaupt leisten zu können. Laut Recherchen von «Autismus deutsche Schweiz» liegt die Arbeitslosenquote bei 80 Prozent. Viele würden gerne arbeiten. Autismusgerechte Stellen sind jedoch Mangelware. Autismusgerechte Schulen auch. In unseren Bildungssystemen werden die besonders auffälligen Autisten schon früh ausgesondert. Und auch die sogenannt funktionalen scheitern am Diktat der Mehrheit – allerdings oft ohne, dass der Grund dafür erkannt würde.

Manchmal gibt es aber auch Tage, da weiss ich selber nicht, wer ich bin. Nach 38 Jahren als unerkannter Autist muss ich das erst noch herausfinden. Allerdings, so nah an des Rätsels Lösung wie heute war ich noch nie.

Wie der soziale Tanz funktioniert, werde ich dennoch kaum je begreifen. Mir fehlt einfach der Rhythmus und Gott bewahre mich vor dem Körperkontakt. Und trotzdem, schaue ich zurück, sind es vor allem die Menschen, die mich näher zu mir selbst gebracht haben. Die, die mir zugehört und geglaubt haben. Die Wort hielten und mir ihrerseits meine harten Worte in Momenten der Überreizung vergaben. Diejenigen, die mir erlaubten, die Dinge auf meine Weise zu tun.

Bis unsere Gesellschaft für Autistinnen barrierefrei ist, ist es noch ein langer Weg. Er fängt mit der Begegnung an. Nur so entstehen Räume, in denen wir uns trauen, unsere Masken fallen zu lassen. Ob neurodivers oder nicht.

Ich für meinen Teil fange jetzt an zu leben. Ich komme aus der dunklen Hundehütte meiner Kindheit heraus und trete in eine Welt, die auch meine ist. Ich bin wach. Ich bin da. Ich bin ich.

Unterstützung und Auskünfte finden Betroffene sowie deren Angehörige unter anderem beim Verein Autismus deutsche Schweiz (ADS): autismus.ch