Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autorin: Käthe Kotter
Illustration: Sarah Weishaupt
Freitag, 09. Dezember 2022

Meine Grossmutter gehörte nicht zu der Sorte Omas, die einem mehr erlaubten als die Eltern, im Gegenteil. Meine Schwester und ich hatten uns zu benehmen, besonders bei Tisch. Wir hatten still zu sein, wenn wir nichts gefragt wurden, aufzuspringen, wenn etwas fehlte, und wir taten gut daran, das Essen zu loben. Meiner Schwester fiel das anscheinend nicht schwer, ich aber war mäkelig veranlagt. Egal wie wenig ich es wollte, ich musste von allem etwas auf meinen Teller tun. Ein fast tägliches Unheil während der wochen­langen Aufenthalte bei meinen Grosseltern waren die mehligen Kartoffeln, die spätestens dann auseinanderfielen, wenn ich sie mit der Gabel aufspiesste; die krause Petersilie darauf kratzte beim Runterschlucken im Hals.

Eines Mittags, als ich fand, dass es besonders schlecht aus der Küche roch, versteckte ich mich hinter dem Schlafsofa, das ich mit meiner Schwester teilte. Vor dem Einschlafen trugen wir dort Kämpfe aus: Sobald eine Arm oder Bein über die ­Grenze, also die Polsterritze, gelegt hatte, ging es los. An diesem Tag aber gehörte das Sofa nur mir. Es war leicht abgerückt von der Wand, und der Zwischenraum wurde mein Zufluchtsort.

Ich kam nicht, als Grossmutter uns rief, den Tisch zu decken, und ich kam auch nicht, als Grossmutter mich rief, zum Essen zu kommen. Bald suchten mich alle: meine Schwester, meine Grossmutter, mein Grossvater und meine Tante, die auch dort wohnte. Ich hörte, wie sie in jedem Zimmer nach mir schauten, ihre Rufe wurden lauter und ängstlicher. Erst als sie davon sprachen, die Polizei zu rufen, verliess ich meine Deckung.

Ferien bei den Grosseltern

Zuhause brauchte ich solche Tricks nicht anzuwenden. Weil ich jeden Tag Milchreis essen wollte, lernte ich mit fünf Jahren, selbst welchen zu kochen. Irgendwann ass ich dann auch wieder, was meine Mutter auf den Tisch stellte. In den Schulferien aber mussten unsere Eltern Geld verdienen, und so verbrachten meine Schwester und ich viele Wochen im Jahr bei unseren Grosseltern, unserer Tante und den beiden Hunden.

Abgesehen vom Essen waren es aber wirklich sehr gute Ferien. Mit unserem Grossvater und den Hunden besuchten wir Burgen und Schlösser, unsere Tante nahm uns mit zum Reiten, machte mit uns Würfelspiele und lud uns in den Zirkus ein. Und wenn meine Grossmutter nicht gerade kochte oder jätete, sassen wir rechts und links von ihr auf dem Sofa, ­während sie uns vorlas.

Das Ding mit der Madonna

Unsere Autorin hat von ihrer Grossmutter eine Kiste voller Eri...

März 2022
Annika Schmitz

Am liebsten mochte ich die Bücher über Michel aus ­Lönneberga. Der machte immer, was ihm in den Sinn kam, und wenn es sich als Unsinn herausstellte, durfte er Holzmännchen schnitzen. Ich glaube, meine Grossmutter mochte Michel auch besonders gerne. Kein Wunder, sie sah Astrid Lindgren, die ich vom Foto auf dem Buchrücken kannte, sehr ähnlich. Während meine Grossmutter es Michel jedoch keineswegs übelnahm, wenn er zum zweiten Mal mit dem Kopf in der Suppenschüssel feststeckte, schimpfte sie mich schon aus, wenn ich ein bisschen in der Nase bohrte.

Auch als wir grösser waren, verbrachten meine Schwester und ich die meisten Ferien bei unseren Grosseltern. Mittlerweile war ich höflich genug geworden, die staubig-kratzigen Petersilienkartoffeln zu loben, und auch sonst versuchte ich, in der Gunst meiner Grossmutter aufzusteigen. In vorau­seilendem Gehorsam deckte ich den Tisch auf und ab und lernte zu ihrem Geburtstag Gedichte von Goethe auswendig. Doch nur selten hörte ich ein nettes Wort von ihr. Während sie meine Schwester lobte, weil sie gut in der Schule war und schön Klavier spielte, lästerte sie über meine Noten, meine Frisur, meine Klamotten. Ich fühlte mich oft wie das Aschenbrödel, das nie geliebt wird, egal, was es tut.

Auch später, als mein Grossvater schon gestorben war und ich längst mein eigenes Leben hatte, besuchte ich sie mehrmals im Jahr. Sie genoss es, mich nach Kräften zu beschäftigen. Zum Uhrmacher fahren, Laub harken, eine Glühbirne wechseln – alle Anweisungen mussten sofort ausgeführt werden, besonders wenn ich gerade etwas anderes tat. Mehr als das störte mich aber, wie sie mit mir redete. Als einmal eine Nachbarin abends zu Besuch kam, befahl sie mir, eine Flasche Wein hochzuholen. Hätte sie es als Frage formuliert oder ein «bitte» drangehängt, hätte ich es gern gemacht. So aber lächelte ich verfroren und ging zum Fluchen in den Keller.

Ich weiss nicht genau, warum ich ihre kleinen Schikanen so oft runterschluckte. Einerseits, denke ich, um meinem Grossvater einen Dienst zu erweisen – er war sanftmütig und hat ihre Strenge ebenfalls ausgehalten. Andererseits wohl auch, weil ich hoffte, doch noch den Teil ihrer Liebe zu bekommen, der mir in meinen Augen zustand. Ich wollte zu den Menschen gehören, von denen sie schwärmte und denen sie nie über den Mund fuhr. Häufig waren es die, die sie nicht so oft anriefen und besuchten.

Die Jahre gingen dahin und mit ihnen ihre Gesundheit. Ihr Geschmackssinn verabschiedete sich, ihre Ohren und ­Augen wurden schlechter, und oft war ihr schwindelig. Irgendwann war sie so wackelig auf den Beinen, dass sie ihr Geschirr nicht mehr in die Küche bringen konnte. Gemüse schneiden ging bald auch nicht mehr, und als sie anfing, Eisbergsalat zu garen, weil sie ihn für Blumenkohl hielt, übernahm meine ­Tante das Kochen.

So richtig lang wurden ihre Tage aber erst, als sie die Buchstaben in der Zeitung und in Büchern nicht mehr unterscheiden konnte. Ihr blieben die Musik und ihr geliebter Hund, doch immer häufiger sprach sie davon, dass es ihr nun reiche mit dem Leben.

Dann, mit Mitte Neunzig, brach sie sich ein Bein. Im Krankenhaus bekam sie das Durchgangssyndrom, einen Verwirrtheitszustand, der häufig bei älteren Menschen nach einer Operation auftritt. Ihre lichten Momente nutzte sie, um sich von Verwandten und Freunden zu verabschieden. Doch ihr eigener Abschied kam nicht.

Ich hätte ihr gerne gesagt, dass der Apfelbaum in ihrem Garten über und über voll hing. Aber ich kam mir blöd vor. Und so sagte ich es nicht.

Aus der Ferne war ich überzeugt, dass es bald aufwärts­gehen würde mit ihr. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie nicht mindestens hundert Jahre alt wird. Meine Grossmutter und der Tod, das passte nicht zusammen. Aber dann, als ich sie im Krankenhausbett liegen sah, liefen die Tränen über mein Gesicht, als wäre sie schon gestorben. Der Anblick hatte so gar nichts mit dem Bild der stolzen, widerständigen Grossmutter zu tun, das ich von ihr hatte. Ihre Wangenknochen und Stirn wirkten überbreit, weil der Rest des Gesichts so schmal geworden war. Ihr Mund stand offen und gab den Blick auf die Zunge frei, die trocken und unbeweglich darin herumlag. Ihr Körper war eingefallen, vor allem Hüfte und Oberschenkel wirkten mehr wie bei einem Skelett; ihr glänzend-goldener Ehering sass lose auf dem Ringfinger.

Ich war mit meiner Tante gekommen und war froh, dass sie mit Grossmutter sprach. Ich wollte nicht, dass sie merkte, wie mich ihr Anblick bestürzte. Zum Glück hatte sie mich noch nicht wahrgenommen. Ihre Augen waren geschlossen und sie war damit beschäftigt, die Bettdecke über sich zu ziehen und wieder von sich wegzustossen.

Nach einer Weile sagte meine Tante ihr, dass ich auch da sei. Sie schien es verstanden zu haben, denn sie lächelte, versuchte etwas zu sagen und sich aufzurichten. Ich stellte mich dicht neben ihr Bett und hielt sie fest. Nach einer Weile fragte ich, ob sie etwas trinken möchte. «Kaffee», sagte sie undeutlich, als ob ihr Mund betäubt sei, und in einem tiefen Ton, den ich nicht von ihr kannte. Ich half, die Tasse an ihren Mund zu setzen, sie trank einen Schluck, der zweite Schluck kleckerte auf ihr Nachthemd. Sie trug ein violettes mit kleinen, weissen Herzen drauf, das gar nicht ihr Stil war, aber ihr sehr gut stand. Es war der letzte klare Moment, den ich mit ihr erlebte.

Nach dreieinhalb Stunden gingen wir und kamen abends nochmal. Wieder liefen mir die Tränen. Ich hätte gerne ein paar alberne Dinge gesagt, zum Beispiel dass der Apfelbaum in ihrem Garten über und über voll hing. Aber ich kam mir blöd vor. Und so sagte ich es nicht.

Am nächsten Vormittag musste ich dringend etwas arbeiten und fuhr erst nach dem Mittagessen mit meiner Tante ins Krankenhaus. Meine Grossmutter lag auf einer Matratze auf dem Boden. Sie war den Tag über unruhig gewesen und fast aus dem Bett gefallen. Zum Teil rührte die Unruhe von Atemaussetzern und dem nachfolgenden Reflex des Körpers, das Gehirn wieder mit Sauerstoff zu versorgen. Man hatte ihr einen Schlauch gelegt und Morphium verabreicht – gegen Schmerzen und zur Beruhigung.

Es heisst, dass Morphium schöne Träume macht, meine Grossmutter aber schien in einem Albtraum gefangen zu sein. Manchmal versuchte sie, sich aufzurichten, sank aber bald zurück ins Kopfkissen. Sie wälzte sich hin und her. Immer ­wieder rief sie: «Hilfe, Hilfe!» Dann nahm ich ihre Hand und redete mit ihr.

Wir waren uns nie körperlich nah gewesen. Eine Umarmung zur Begrüssung, eine Umarmung zum Abschied. Aber irgendwie zählte jetzt gar nicht so sehr, was früher war oder nicht war. Sie wurde ruhiger, wenn ich ihre Hand oder ihr ­Gesicht streichelte, und das war schön. Bald aber hatte ihr Albtraum sie zurück. Als wir nach einigen Stunden ihr Zimmer verliessen, waren meine Hosentaschen durchweicht von ­vollgerotzten Taschentüchern.

Auf der Matratze

Meine Tante und ich fuhren zum Griechen. Der Ouzo vor dem Essen und nach dem Retsina tat gut. So ruhelos, wie wir meine Grossmutter erlebt hatten, wollten wir unsere Besuche nun aufteilen, damit sie nicht zu lang allein war. Wir telefonierten umher, wer ihr noch Gesellschaft leisten und uns entlasten konnte. Lange würde es nicht mehr dauern. Meine Grossmutter hatte lebenserhaltende Massnahmen abgelehnt; der Schluck Kaffee war das letzte, was sie zu sich genommen hatte. Innerhalb weniger Tage würde sie gestorben sein.

Meine Tante sagte, dass sie es schön fände, wie liebevoll ich mich meiner Grossmutter zuwenden konnte, wenn man bedenkt, wie garstig sie manchmal zu mir gewesen war. ­Ihr selbst falle diese Nähe schwer. Auch meine Tante hatte mehr Vorwürfe als Dankbarkeit zu hören bekommen, obwohl sie es war, die sich hauptsächlich gekümmert und meiner Grossmutter den Umzug ins Pflegeheim erspart hatte.

«Sie konnte ihre Liebe nicht gut zeigen, nur mit den Hunden konnte sie das», sagte meine Tante. Dass die Liebe aber da war, konnte man in mancher ihrer Gesten erkennen. Einmal hatte meine Grossmutter den Geräteschuppen für meine Schwester und mich ausgeräumt und sauberge­macht, damit wir darin spielen konnten. Ihre Mühe hat­ten wir allerdings gar nicht wahrgenommen. In unseren Augen blieb der Schuppen die Giftküche, aus der wir Dün­ger, Schneckenkorn und ­Rollsplitt nahmen, um Zaubertrank zu brauen.

Nach dem Griechen fuhr ich nochmal ins Klinikum. Auf meinen Wunsch, über Nacht zu bleiben, wurde mir ein Bett ins Zimmer gerollt, ich konnte mich aber auch auf die Matratze neben meine Grossmutter legen. Sie war ruhiger jetzt. Ich erzählte ihr von ihrem Apfelbaum und richtete den Dank meiner Mutter aus, dass sie sich so viel um uns gekümmert hatte. Auch ich bedankte mich, vor allem fürs stundenlange Vorlesen.

Sosehr ich ihr gewünscht hätte, dass sie friedlich einschläft und nicht mehr aufwacht, es hätte irgendwie nicht zu ihr, die sich gegen das Altern stets gewehrt hatte, gepasst.

Als ich müde wurde, legte ich mich neben sie auf die zweite Matratze. Ich schlief ein, wurde aber bald von einem wimmernden Hilferuf geweckt. Ich sagte ihr, dass sie versuchen sollte, loszulassen von diesem Leben – und staunte selbst über meine Worte. Gestern noch tat es weh, sie so zwischen Leben und Tod zu sehen, und jetzt ermunterte ich meine Grossmutter sogar zum Sterben. Ein paar Mal, als sie sich nicht beruhigen liess, klingelte ich und ein Krankenpfleger gab ihr eine Dosis Morphium. Sosehr ich ihr gewünscht hätte, dass sie friedlich einschläft und nicht mehr aufwacht, es hätte irgendwie nicht zu ihr, die sich gegen das Altern stets gewehrt hatte, gepasst.

Auf eine zerhackte Nacht folgte ein schöner Morgen. Sonnenstrahlen fielen durch die Jalousien und ich erinnerte mich an eins ihrer Lieblingskirchenlieder, «Die güldne Sonne». Sie wurde für einen Moment ganz ruhig, als ich es ihr auf dem Smartphone vorspielte. Es war schön zu spüren, dass die Musik sie noch erreichte.

Als ich das Krankenhaus verliess, merkte ich, dass die Nacht etwas bei mir verändert hatte. Meine Grossmutter wollte sterben, das hatte sie oft genug gesagt, und ich verstand nun, dass es das Richtige für sie war. Als ich am Nachmittag wiederkam, brachte ich ihr den goldenen Engel mit, den ich ihr und meiner Tante einmal geschenkt hatte. Ich stellte mir vor, dass er ihr helfen würde, den Weg zu finden. Und ich brachte das Buch «Michel aus Lönneberga» mit.

Meine Grossmutter war so unruhig, dass sie nun regelmäs­sig Morphium bekam. Sie verkrampfte oft und wimmerte, auch wenn sie eigentlich keine Schmerzen gehabt haben dürfte. Man konnte ihrem Körper den Kampf gegen den Tod an­sehen. Ich musste an den Film «Titanic» denken, an die Szenen, in denen das Wasser die Gänge und Kabinen flutet und die Lampen noch einmal aufflackern, bevor sie verlöschen. Ich las ihr das erste Kapitel von Michel vor.

Manchmal fragte ich mich, ob wir uns zu viel kümmerten. Ich hatte gehört, dass viele Sterbende sich einen Moment aussuchen, in dem niemand im Zimmer ist. Aber es fühlte sich nicht richtig an, sie mit ihrer Unruhe alleinzulassen. Vielleicht würde sie ja in der kommenden Nacht sterben, während ich schlief.

Unter uns

Stundenlang verweilte unsere Autorin Susanne Leuenberger auf d...

Januar 2018
Susanne Leuenberger
Reto Camenisch

Die Nacht verlief ähnlich wie die davor. Wenn sie zu unruhig war, klingelte ich und meine Grossmutter bekam mehr Morphium. Um 10 Uhr löste mich eine Frau vom Hospizdienst ab, die wir darum gebeten hatten. Vor der Tür fragte ich, wie sie mit Sterbenden spricht. «Gehen Sie davon aus, dass sie alles mitkriegen», sagte sie. «Erzählen Sie ihr, wenn Sie rausgehen, um sich einen Kaffee zu holen, oder nach Hause fahren, damit sie Bescheid weiss.»

Ein Atemaussetzer

Am Nachmittag ging ich wieder hin und gab mir mit einem Mann die Klinke in die Hand, der jede Woche mit ihr spazieren gegangen war. Es war schön zu sehen, wer meine Grossmutter alles besuchen kam. Sie war nun ganz ruhig und ich las ihr ein weiteres Kapitel von Michel vor. Dann legte ich mich auf das Extrabett und schlief ein.

Noch vor dem Abend, kurz bevor eine Nachbarin vorbeikommen wollte, wachte ich auf. Ich stellte einen Stuhl vor die Matratze meiner Grossmutter und beobachtete sie. Sie atmete gleichmässig, fast mechanisch. «Heute schlafe ich noch mal hier», sagte ich zu ihr, «morgen muss ich leider fahren, aber in Gedanken bleibe ich bei dir.» Sie regte sich nicht, atmete ruhig weiter. Dann ein Atemaussetzer. Ihr Brustkorb bewegte sich für etliche Sekunden weder auf noch ab. Aber ich sah ihr Herz schlagen und ihre Halsschlagader pulsieren.

Mir war klar, dass es der Moment sein könnte, in dem sie stirbt und ich sie nicht festhalten sollte, doch es platzte aus mir heraus: «Grossmutter?» Als hätte sie es nur vergessen, fing sie wieder an zu atmen, hörte aber nach ein paar Zügen auf. Diesmal sagte ich nichts. Sah zu, wie ihr Brustkorb ruhte und ihr Herz irgendwann stehenblieb.