Der ehrliche Klappentext

«Weiblichkeit im Aufbruch» von Nora Amin

Einen Text wie einen Faustschlag hat die Tänzerin Nora Amin geschrieben: Weiblichkeit im Aufbruch macht den Hass und die Gewalt, die sich gegen ägyptische Frauen richten, fast physisch spürbar. Amins Essay ist ein wütender Aufruf, die Befreiung weiblicher Körper weiter zu erkämpfen.
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Freitag, 22. Juni 2018

Verschiedene Medien berichteten Anfang Mai, dass die Familie Lotfy mitten in der Nacht in Kairo verhaftet worden war. Während Vater und Sohn nach einigen Stunden wieder freikamen, blieb Mutter Amal in Haft, angeblich wegen eines Youtube-Videos, in dem sie sich gegen die alltägliche sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Ägypten wehrt. Amal und ihr Mann sind beide aktiv bei einer Menschenrechtsorganisation; es könnte als reiner Zufall erscheinen, dass die Frau inhaftiert blieb, der Mann jedoch von der Polizei nicht weiter behelligt wurde. Die ägyptische Tänzerin, Choreografin und Schriftstellerin Nora Amin sieht in diesem Umstand jedoch mehr als Zufall am Werk, denn das Schicksal von Amal Lotfy ist kein Einzelfall. Frauen und ihr Körper sind ein zentrales Kampffeld der ägyptischen Politik. Dagegen hat Amin einen ungestümen Essay verfasst, einen Text voller Stolz, Erschütterung, Kraft, Schönheit, Rebellion, Geheimnis und Mut.

Weiblichkeit im Aufbruch erschien am 25. Januar 2016 auf einem englischsprachigen Blog. Amin verarbeitet darin die Ereignisse auf dem Tahrir-Platz. Sie beschreibt, wie wichtig es war, dass ägyptische Frauen durch ihre Anwesenheit auf dem Platz für die globale Öffentlichkeit und füreinander sichtbar wurden: «Die lächelnden Gesichter der Frauen verraten mir, dass wir auf unsere Menschenwürde zumarschieren. Die üblichen Dynamiken der Strasse und die übliche Geschlechterpolitik existieren nicht mehr. Es ist ein Moment, in dem die Geschichte der Missachtung und Entehrung von Frauen plötzlich ganz fern scheint.» Amin beschreibt aber auch, wie Frauen auf ebendiesem öffentlichen Platz von Männermobs systematisch vergewaltigt wurden.

Es geht der ägyptischen Aktivistin um individuelle und kollektive Körper, auch wenn sie das so theoretisch nicht fasst. Bereits in ihrer Kindheit hat sie ein Sensorium für die Wahrnehmung des weiblichen Körpers im öffentlichen Raum entwickelt. So schreibt sie: «Als Kind und Jugendliche glaubte ich mehrere Körper zu haben, da ich ständig wuchs, mich veränderte und verwandelte. Und so denke ich bis heute, obgleich ich ‹meine Körper› mittlerweile anders wahrnehme. Sie entstehen nicht mehr durch das Älterwerden und mit der Zeit, sondern durch fremde Blicke.» Amins Fokus liegt auf dem ungeschützten, versehrten Körper. Sie beschreibt, wie die Machtverhältnisse Spuren und Narben hinterlassen, die sehr konkret sind: etwa, wenn Frauen ihre Töchter beschneiden, oder wenn Vergewaltigungen, sogar öffentliche, ungeahndet bleiben.

Wie Amin den Körper als Ort des Menschen in der Welt, als Ausgangs- und Knotenpunkt all unserer Erlebnisse und Handlungen behauptet, ist eine Offenbarung. Sie kümmert sich nicht um populäre Gender- und Körpertheorien, sondern schreibt über konkrete physische Erfahrungen. Sie begreift den Körper im Raum, in Relation zu anderen Körpern: «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Öffentlichkeit ein grosses Netzwerk der Körperlichkeiten ist: Alle Körper identifizieren sich gegenseitig und verbinden sich physisch, um den Raum auszufüllen und durch komplexe Verbindungen zu beleben.» Diese Perspektive ist kraftvoll, man spürt beim Lesen, dass die Tänzerin sich absolut auf ihren Körper verlassen kann – und muss.

Dass Amins Essay 2018 in deutscher Sprache erscheint, ist nicht zufällig, denn mittlerweile hat sie ihr Schaffen nach Deutschland verlagert. Die Gründe dafür sowie Näheres zu ihrem Werk hätte man gerne in einem Vorwort gelesen. Aber vielleicht überträgt sich gerade durch das Unvermittelte dieses rohen Textes die Wut, die Amin antreibt, sich trotz aller Repression noch immer öffentlich zu äussern. Ihr Essay ist ein aktuelles Plädoyer für die Präsenz der Frauen in der Öffentlichkeit, für die Sichtbarkeit und den Schutz des weiblichen Körpers auf öffentlichen Plätzen, für die Freiheit der Frauen, sich zu zeigen und zu bewegen, wo und wann sie wollen.

Nora Amin: Weiblichkeit im Aufbruch. Matthes und Seitz, Berlin 2018; 123 Seiten; 21.90 Franken.

Dolores Zoé Bertschinger ist Religionswissenschaftlerin und freie Journalistin.

  • N° 11/2018

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