Man habe sie «in die dunkle Kammer verfrachtet. Abgeschottet von den sauberen, öffentlichen Blicken», so beklagt sich eine Figur in Martina Clavadetschers Buch «Vor aller Augen». Es ist die Stimme von Walburga Neuzil, die dem expressionistischen Maler Egon Schiele Modell gestanden oder vielmehr: gelegen hat. Denn Schiele wollte seine Modelle meist in der Horizontalen, mit gespreizten Beinen, und unbekleidet.
Im Clinch mit der bürgerlichen Sittlichkeit und im Verdacht der Kinderpornografie hat manches Werk Schieles in den Kunstschauen bis heute einen schweren Stand. So konnte sich Clavadetscher die «Auf dem Rücken liegende Frau» nicht ansehen, weil das Bild in einem Depot versorgt war. Umso mehr war die Neugier der Schriftstellerin geweckt, die 2021 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde. Neugier nicht nur auf das Bild und sein Motiv, sondern auch auf die Lebensgeschichte des Modells, die sich dahinter verbirgt.
So begann eine umfangreiche Recherche zu Frauenporträts von der Renaissance bis ins 20. Jahrhundert. Clavadetscher suchte nach den Geschichten jenseits der Klischees von idealisierten Musen und verdorbenen Strassenmädchen. Aus ihren reichhaltigen Befunden und unter Zuhilfenahme der Phantasie schuf sie Texte zu 19 Gemälden, die jedem der Modelle eine eigene Stimme verleihen.
In einem lehrreichen Gang durch die Jahrhunderte kommt ein ungeahnter Reichtum an Anekdoten und Informationen zutage, der in der Kunstgeschichte üblicherweise kaum interessiert. Nicht einmal die Namen haben es in die Werktitel geschafft, so dass ein Porträt Leonardo da Vincis nicht «Cecilia Gallerani», sondern bloss «Dame mit Hermelin» heisst. Dabei war Gallerani als Dichterin, Philosophin, aber vor allem als Mätresse des Fürsten von Mailand alles andere als eine Unbekannte.
Andere Gesichter tragen weniger klingende Namen und forderten eher die Vorstellungskraft als den Recherchefleiss der Autorin heraus. So etwa die zweite Person auf Édouard Manets Bild «Olympia», auf dem neben dem liegenden Frauenakt eine schwarze Frau mit einem Blumenstrauss zu sehen ist. Über Victorine-Louise Meurent, die bleiche Venus mit dem angeblich so lasziven Blick, ist schon viel Tinte vergossen worden. Als Prostituierte und Strassenmädchen hatte man sie beschrieben, doch sie war eine moderne und eigenständige Frau und selbst Künstlerin. Das schwarze Modell hingegen muss sich mit einem Vornamen, «Laure», begnügen, und mit der Mutmassung, dass sie eine Bedienstete aus Manets Pariser Nachbarschaft war.
Doch dies reicht Clavadetscher nicht. «Hört ihr mich?», lässt sie Laure und auch andere Modelle uns zurufen. «Ich hatte ein Leben. Ich habe eine Geschichte. Und die lasse ich mir nicht wegnehmen. Von keiner Autorin, keinem Maler, von keinem Bild. Ich bin Laure! Sucht weiter!» Dass die von der Kunstgeschichte vernachlässigten Modelle nun gleichsam aus dem Bilderrahmen heraustreten und persönlich von uns Gehör und Rechenschaft einfordern, stellt die Geschichte etwas pathetisch in einen (geschlechter-)politischen Deutungszusammenhang. Und es hat die Nebenwirkung, dass die Erzählstimmen, die den Bogen von ihrer Zeit zu der unseren schlagen müssen, in ihrer Perspektive schwer fassbar sind und sich im Ton alle etwas ähneln.
Dennoch berührt und empört das Leid durch Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung, das die Modelle wegen der schönen Gemälde erlitten haben. Es lässt Clavadetschers radikale Haltung gerechtfertigt erscheinen, sich als Künstlerin für einmal nicht mit den Künstlern, sondern mit den Menschen zu verschwistern, die hinter den Leinwänden standen. Und es lässt das berühmte Selbstporträt der klassizistischen Malerin Angelika Kauffmann umso heller strahlen. Denn ihre Geschichte zeigt, wie früh es eigentlich schon möglich gewesen wäre, dass Frauen und Künstlerinnen gefördert, geschätzt und anerkannt werden.
Martina Clavadetscher: «Vor aller Augen». Unionsverlag, Zürich 2022; 240 Seiten; 34 Franken.