Der ehrliche Klappentext

«Verfehlte Orte» von Christoph Geiser

In Verfehlte Orte versammelt Christoph Geiser fünf neue Erzählungen, in denen er sich auf venezianische Grabfelder begibt oder im aargauischen Rupperswil den Tatort von einem der grausamsten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte aufsucht. Die Texte des literarischen Grenzgängers sind eine Zumutung – allerdings eine, die sich über weite Strecken lohnt.
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Freitag, 04. Oktober 2019

Der Schweizer Schriftsteller Christoph Geiser hat sich in seinen inzwischen rund zwanzig Romanen und Erzählbänden immer wieder schonungslos mit der eigenen Herkunft und Homo­sexualität auseinandergesetzt. Mit den autobiografischen Büchern Grünsee (1978) und Brachland (1980) war ihm schon in jungen Jahren Erfolg beschieden. Später folgten zahlreiche Auszeichnungen, darunter im vergangenen Jahr der renommierte Literaturpreis von Stadt und Kanton Bern.

Dass Geiser trotzdem nie ein Autor fürs breite Pu­blikum war, hängt wohl ebenso mit der Obsession für seine Themen wie mit der Radikalität seiner Ästhetik zusammen. Einen neuerlichen Beleg für seinen artistischen Umgang mit Sprache bietet nun der im Berliner Secession-Verlag erschienene Erzählband Verfehlte Orte.

Schon mit dem Eingangssatz der ersten Erzählung, Die Vergrämung der Zauneidechsen, macht Geiser klar, was Literatur auch im Zeitalter von Twitterkommunikation sein darf oder muss: eine Zumutung. Über ganze 21 Zeilen zieht sich der Satz, ein kleistsches Ungeheuer, das die Leserin verzweifelt nach dem nächsten rettenden Kurzsatz Ausschau halten lässt. Und da heisst es dann auch schon bald: «Nun aber mal schön der Reihe nach.» Der Reihe nach geht in Geisers Erzählungen aber selten etwas. Vielmehr verwischen sich fortlaufend die Grenzen, zum Beispiel die zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In Die Vergrämung der Zauneidechsen liest der Protagonist – Geiser selbst – 2015 in einem Berliner Café über die Ausgrabung einer Leninstatue, die nach der Wende zertrümmert und im Köpenicker Forst entsorgt wurde. Nun soll der Kopf der Statue in einer Ausstellung gezeigt werden.

Beim Autor ruft dies Bilder aus der eigenen Berliner Zeit hervor. Als junger Mitarbeiter der kommunistischen Zeitschrift Vorwärts hatte Geiser in den 70er Jahren den Schweizer Sozialisten Marcel Brun alias Jean Villain in Ostberlin besucht. Geiser kommen Einzelheiten dieses Treffens in einem Plattenbau am damaligen Leninplatz in den Sinn, und er weiss auch noch, wie man gemeinsam in der Küche Pizza mit internationalen Zutaten belegte. Doch die Erinnerung bleibt bruchstückhaft, fragmentiert wie die Leninstatue heute.

Geisers Erzählungen handeln fast immer von fragwürdig gewordenen Erinnerungen und enttäuschten Erwartungen. Sie schildern Orte, die der Autor verfehlt hat, weil er nie richtig angekommen ist. Das kann bisweilen auch komisch enden, wie in der Erzählung Die falschen Toten von San Michele, in der Geiser eine Reise nach Venedig schildert. Die kunstgesättigte Stadt wird zum labyrinthischen Albtraum, in dem sich der Autor am Ende, geplagt von Harndrang, zwischen den Urnengräbern der Friedhofsinsel San Michele verirrt.

Ein verfehlter Ort ist schliesslich auch Rupperswil im Aargau, das 2016 zum Schauplatz eines der grausamsten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte wurde. Der pädophile Thomas N. löschte damals eine ganze Familie aus und vergewaltigte den 13jährigen Sohn. In der Erzählung bricht Geiser zwei Jahre später zum Prozess auf, um sich ein eigenes Bild vom Täter zu machen. Ist dieser wirklich die von den sensationslüsternen Medien kolportierte «Bestie», oder ist die Wahrheit vielschichtiger? Zum Prozess wird der Autor aber nicht zugelassen, und so recherchiert er auf eigene Faust, besichtigt die Umgebung des Tatortes, die Gräber der Opfer. Geiser rückt die Pädophilie ins Zentrum seiner Über­legungen und wirft die beunruhigende Frage auf, inwiefern die Tabuisierung durch die Gesellschaft solche Taten provoziert. Die Erzählung ist äusserst verstörend, auch weil der Autor darin eine gewisse Nähe zum Täter sucht. So erscheint ihm dieser auf einer Fotografie als «Dunkel. Schön. Sehr erotisch.»

Doch so mutig Christoph Geisers Versuch ist, ins Herz der Finsternis zu dringen: Er kränkelt daran, dass er zu wenig authentische Informationen hat, um ein neues Bild vom Täter zu gewinnen. Insgesamt sind seine hintergründigen Erzählungen aber ein Lesevergnügen, das insbesondere die Liebhaber einer kunstvollen Prosa fesseln wird.

Christoph Geiser: Verfehlte Orte. Secession-Verlag, Berlin 2019; 176 Seiten; 25 Franken.

  • N° 17/2019

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