Aus der Herzkammer

Türkisch für Angeber

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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 12. August 2022

Im Frühling 2009 war ich Turnusarzt in Ausbildung an der Abteilung für Innere Medizin des Wiener Kaiserin-Elisabeth-Spitals.

Und so ging ich eines Morgens mit der stationsführenden Oberärztin auf Visite.

Damals besuchte ich berufsbegleitend den Kurs «Türkisch für Gesundheitsberufe» an der Abendschule. Ich machte als Jungmediziner ja tagtäglich die Erfahrung, dass viele Wienerinnen mit türkischen Wurzeln wenig bis gar kein Deutsch sprechen, und dachte mir also in meiner jugendlichen Euphorie: «No machst halt einen Kurs an der Abendschule!»

Als ob man Türkisch lernen könnte, indem man ein Semester lang jeden Dienstagabend drei Stunden lang Türkisch lernt.

Eine Dummheit. Ein Grössenwahnsinn im Grunde.

Aber ich war halt damals noch jung und dumm. Heute bin ich wenigstens alt und dumm. Das lindert Euphorie und Grössenwahn.

Jedenfalls ging ich also damals auf Visite, und da gab es einen alten türkischen Patienten, der erstaunlicherweise nie Besuch von seiner Familie bekam.

Das ist eine Rarität im Wiener Krankenhausalltag, denn türkische Senioren werden in der Regel immer und überall von ihren Kindern oder Enkelkindern oder ihren Nichten oder Neffen begleitet, wenn sie uns Ärztinnen aufsuchen. Und wenn sie im Krankenhaus liegen, ist in der Regel immer eines ihrer Kinder oder Enkelkinder oder zumindest ein Neffe anwesend, um bei der Visite dolmetschen zu können.

Aber im Falle dieses älteren türkischen Patienten war also nie irgendein Kind oder Enkelkind oder mindestens eine Nichte anwesend.

Und so stehen wir, die Oberärztin, die Stationsschwester und ich, bei der Visite vor seinem Bett und starren uns ratlos an.

Er starrt uns ratlos an.

Die Oberärztin: «Was machen wir da? Wir müssen ja irgendwie mit diesem Patienten kommunizieren. Der arme Mann ist ja schon völlig verängstigt. Haben Sie versucht, die Angehörigen zu erreichen?»

Stationsschwester: «Ja. Die heben nicht ab.»

Ich: «Nun, Frau Oberärztin, ich mache gerade einen Türkischkurs. Ich könnte versuchen, mit dem Patienten zu reden.»

Die Stationsschwester und die Oberärztin sehen mich erstaunt an.

Oberärztin: «Sehr gut, Herr Kollege. Sehr gut! Dann sagen Sie bitte dem Patienten, dass wir am Freitag eine Darmspiegelung planen und dass er am Donnerstag daher unbedingt sein Abführmittel trinken muss, denn wenn er das nicht trinkt, dann können wir die Darmspiegelung am Freitag nicht machen.»

Ich denke mir «challenge accepted», obwohl mir von dieser Freitag-Darmspiegelung-Abführmittel-Message im ersten Moment nur ein einziges Wort auf Türkisch einfällt:

Çuma. Freitag.

Und das auch nur, weil es dem persischen Dschome für Freitag so ähnelt.

Egal, denke ich, fang einfach mal mit dem an, ­was du kannst.

Ich zum Patienten: «Günaydin! Çuma …»
(«Guten Morgen! Am Freitag …»)

Der Patient reisst seine Augen auf, strahlt mich an wie das Licht am Ende eines tausendjährigen Pandemietunnels. Seine Schleusen öffnen sich. Er sagt mir endlich all das, was er seit einer Woche, wo er völlig verzweifelt in diesem dreckigen und verschimmelten Kaiserin-Elisabeth-Spital liegt und mit niemandem reden kann, auf dem Herzen hat:

«Güzündürü ördöndandiyor birkizende almiyorsunuz öndöndürüm örendusunüs …»

Ich: «… Çuma …»

«… Ödözönderen üzmiçgüzününderünden …»

«… ÇUMAAAA ! ! ! ! !»

Das geht eine Zeitlang so hin und her, und irgendwann sagt die Oberärztin zu mir: «Herr Kollege, wissen Sie eigentlich, was ‹Ich spreche kein Türkisch› auf Türkisch heisst?»

Ich überlege.

«Hm, nein. Das weiss ich eigentlich noch gar nicht …»

Oberärztin: «Ich finde, das sollten Sie mal lernen.»

  • N° 7/2022

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