Aus der Herzkammer

Tiefschwarzer Silvester

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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 18. Dezember 2020

Ich weiss mit absoluter Sicherheit, dass ich das Kind meiner Eltern bin.

Zum einen bin ich genauso wahnsinnig wie die zwei, und überdies habe ich die Augen meiner Mutter und die Behaarung meines Vaters.

In allen Schulen dieser Welt wird in allen Biologieunterrichten gelehrt, dass der Mensch zu achtzig Prozent aus Wasser besteht und nur zu zwanzig Prozent aus organischen Verbindungen.

Und das stimmt, allerdings mit einer Ausnahme: die Perser.

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass wir Perser zu achtzig Prozent aus Haaren bestehen, zu zehn Prozent aus Wasser und der Rest sind ein paar Zellen, vermutlich in erster Linie Magen und Verdauungsorgane.

Und so lebe ich seit meiner Pubertät mit dem Behaarungsschicksal eines Persers und werde mich zeitlebens mit einer Machete durch den Regenwald zu meiner Körperoberfläche durchschlagen, durchmähen und durchwühlen müssen.

Mein Arsenal an Haarentfernungsgeräten gleicht dem Fahrzeugpark eines Getreidebauern. Mit dem, was ich mir bislang vom Körper geschoren, geschnitten, getrimmt und gerupft habe, könnte dieser eine Saison lang all seine Felder mit Biomasse versorgen.

Aber ich jammere auf hohem Niveau!

Die Perserinnen sind noch viel ärmer dran, denn auch unter den Persern hat längst das Schönheitsideal der glattgeschorenen Frau Einzug gehalten.

Meine liebste Cousine Shan Diz hat sich mittlerweile für mindestens zweihundertdreiundvierzigtausend Euro den gesamten Körper lasern lassen. Als wir jung und arm waren, waren aber noch günstigere Hilfsmittel gefragt.

31. Dezember 1999. Shan Diz und ich bereiten uns zuhause auf die grosse Millenniumsparty vor. Wir probieren verschiedene Outfits und machen uns die Haare. Ich rasiere mir Ohren, Nase und Stirn, sie schminkt sich. Dann probiert sie etwas Neues aus. Um ihrer Körperbehaarung das Tiefschwarze zu nehmen, trägt sie am gesamten Körper Bleichmittel auf. Dazu muss man wissen: Das Gemeine am angeborenen und chronischen persischen Haarkrebs ist, dass wir nicht nur von unserem Haar überwuchert werden, sondern dass es auch aussergewöhnlich dick, widerborstig und tiefschwarz ist. Shan Diz dazu: «Wir Perser tragen unser Schamhaar nicht nur am ganzen Körper, sondern auch auf dem Kopf.»

Jedenfalls schmiert sie sich von Kopf bis Fuss mit diesem Bleichmittel ein, um es nach einer Stunde Einwirkzeit wieder abzuspülen. Das Resultat ist verheerend. Es hat, aus welchem Grund auch immer, völlig ungleichmässig gewirkt.

Meine Cousine ist ein einziger Fleckerlteppich aus Aschblond über Brünett bis immer noch Tiefschwarz.

Einige Minuten später sitzen wir im Taxi zur Party.

Die Verheissung der Nacht: nichts weniger als die grösste Feier des Jahrhunderts zu erleben.

Meine Cousine sitzt neben mir und schaut aus wie eine verprügelte Leopardin.

Wir waren damals wirklich bereit für all das, was noch kommen würde.

  • N° 14+15/2020

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