Der ehrliche Klappentext

«Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann» von Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji

Ein Oltner Industrieller dealte in den 1960er Jahren erfolgreich mit dem Dalai Lama und den Bundesbehörden – am Ende fanden 160 tibetische Flüchtlingskinder in der Schweiz ein neues Zuhause. Das Problem: Die wenigsten waren Waisen, viele wurden gegen den Willen ihrer leiblichen Eltern in die Schweiz exportiert. Das Buch Tibetische Kinder für Schweizer Familien der Journalistinnen Sabine Bitter und Nathalie Nad-Abonji bringt Licht in diese dunkle Aktion.
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Autorin: Corinne Holtz
Freitag, 20. April 2018

«Als wir nach Hause kamen, steckten wir ihn gleich in die Badewanne. Er hat geweint, bis er gemerkt hat, dass das Wasser gar nicht so heiss ist.» Gret Aeschimann erinnert sich in der Radiosendung Frauenstunde lebhaft an die Ankunft ihres Pflegesohnes Tseten, der zum Reklameobjekt für humanitäres Engagement werden sollte.

Tseten ist rund dreieinhalb Jahre alt, als er 1960 in den Direktionshaushalt der Familie Aeschimann einzieht. Pflegevater Charles Aeschimann ist inzwischen Stiftungsrat des Pestalozzi-Kinderdorfs in Trogen, treibt dort die Eröffnung des ersten Tibeter-Hauses voran und spricht als Initiant der Flüchtlingskinderaktion bei einflussreichen Amtsdirektoren der Bundesbehörden vor. Sie erlauben ihm schliesslich, ohne rechtliche Auflagen, maximal 200 Kinder einzufliegen und die Betreuung «soweit als möglich persönlich» zusammen mit seiner Familie und weiteren Pflegeeltern zu übernehmen.

Am liebsten isst Tseten Reis, viel lieber als Gemüsebrei. Wenn das Dienstmädchen «Riz» kocht, ist er «selig». Vielleicht leidet er wie andere Flüchtlingskinder aus der Nursery im indischen Dharamsala an Furunkeln, Bandwürmern und Hautausschlägen. Seine Pflegemutter beschreibt ihn als «sehr intelligent und sehr anhänglich», darum auch «anpassungsfähig». Andere Pflegekinder haben weniger Glück – obwohl auch sie in liberale Arzt- und Lehrerfamilien kommen, in denen Bildung grossgeschrieben wird und den Opfern des kommunistischen Chinas geholfen werden soll. Die Schützlinge sollten später als «Elite» einen unabhängigen tibetischen Staat aufbauen helfen.

Das Ehepaar N. – er Zahnarzt, sie Lehrerin – nimmt zwei Mädchen auf, die Schwestern sind und von Eltern stammen sollen, die im Strassenbau arbeiten und keine Möglichkeit hätten, sich um die Kinder zu kümmern. Es handle sich praktisch um Waisen, hätten die Aeschimanns versichert. Später melden sich die Eltern: Sie wollten ihre Töchter «nach Abschluss der Ausbildung zurückhaben».

Kinder zu «assimilieren» und ihrer Sprache und Gewohnheiten zu entfremden sei an sich schon heikel, bekennt das Ehepaar N. Und eine Trennung von den Eltern liesse sich eher rechtfertigen, wenn die beiden Mädchen «übermässig intelligent wären» und eine höhere Schulbildung infrage käme. Man habe umsonst auf eine «sorgfältige Auslese» vertraut. Die Mädchen müssen gehen und zu Aeschimanns nach Olten ziehen, bis ein neuer Ort für sie gefunden werden kann.

Täuschung durchzieht die Aktion Aeschimann, und schiefes Licht fällt auf den Dalai Lama – das macht die Lektüre deutlich. Immerhin gab es Versuche, die Aktion zu stoppen. Der prominent besetzte Arbeitskreis Tibetische Flüchtlinge regte sich, Vertreter der Hilfswerke intervenierten.

Dem tibetischen Oberhaupt ist bis heute keine Stellungnahme zu entlocken. Audienz oder Interview liess er über seinen Privatsekretär ablehnen. Und die von Aeschimann verantworteten Akten lagern noch immer unerschlossen im Ferienchalet der Familie. Trotzdem ist es den beiden Autorinnen Sabine Bitter und Nathalie NadAbonji gelungen, offensiv zu recherchieren und dabei auch ehemalige Pflegekinder zum Gespräch zu bewegen. Viele sind heute in sozialen Berufen tätig, manche haben Drogensucht und Klinikaufenthalte hinter sich. 9 der 160 Pflegekinder nahmen sich in der Adoleszenz das Leben.

Die Autorinnen legen eine faktenbasierte Aufarbeitung vor, unaufgeregt im Ton und aufschlussreich in der Analyse. Bisweilen hemmen ausführliche Zitate den Lesefluss und strapazieren die Aufmerksamkeit. Trotzdem liest sich das Buch streckenweise wie ein Krimi. Was Aeschimann im Innersten antrieb, bleibt offen. Es gibt bekanntlich keine selbstlosen Helfer. Der Narzissmus ist im Zuge von Fremdplatzierung und Adoption ein starker Treiber und dürfte auch die Aktion Aeschimann und ihren Hauptdarsteller mobilisiert haben.

Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann. Rotpunktverlag, Zürich 2018; 239 Seiten; 39.90 Franken.

Corinne Holtz ist Publizistin und lebt in Zürich.

  • N° 7/2018

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