Der ehrliche Klappentext

«Starke Schweizer Frauen. 30 Porträts» von Daniele Muscionico

Die Journalistin Daniele Muscionico erzählt in «Starke Schweizer Frauen» 30 Lebensgeschichten nach. Ob Flüchtlingshelferin oder Spionin, ob berühmt oder neu entdeckt: Allen Porträtierten ist gemeinsam, dass sie soziale Schranken überwanden.
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Freitag, 18. März 2022

Wussten Sie, dass eine Schweizerin in Waterloo für Napoleon kämpfte? Regula Engel-Egli brachte nicht nur 21 Kinder zur Welt, sondern glühte auch für den französischen Herrscher; so sehr, dass sie selber in die Uniform stieg und Seite an Seite mit ihren Söhnen und ihrem Mann auf dem Schlachtfeld stand. Oder war Ihnen bekannt, dass Pestalozzi eine Schwester im Geist hatte, die im Praktischen erfolgreicher war als er selbst? Marie-Anne Calame eröffnete in Le Locle 1815 ein Heim für Waisenkinder und liess ihnen die Bildung zuteil werden, die Pestalozzi im benachbarten Yverdon predigte. Oder haben Sie schon mal gehört oder gelesen, dass eine Mutige bereits vor 200 Jahren ihren gewalttätigen Ehemann vor Gericht brachte? Die Brienzer Schifferin Elisabetha Grossmann wurde von ihrem Mann wiederholt vergewaltigt – sie reichte die Scheidung ein und beantragte seine Bevormundung.

Neben diesen drei kaum bekannten finden sich im Buch «Starke Schweizer Frauen» auch zahlreiche berühmte Namen, darunter Ella Maillart, Iris von Roten und Meret Oppenheim. Doch es sind die Unbekannten, deren Geschichten am meisten überzeugen. Nicht nur, weil ihre Existenz nun ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geholt wird, sondern auch, weil die Texte über die bekannteren Protagonistinnen einiges an Vorwissen verlangen. Wer die Namen und Geschichten nicht schon kennt, tut gut daran, eine Suchmaschine zu Rat zu ziehen.

Die dreissig Frauen, von der heiligen Wyborada (9. Jahrhundert) bis zu Emilie Lieberherr (gestorben 2011), bilden eine grosse Vielfalt weiblicher Lebens­entwürfe ab. Gemeinsam ist ihnen einzig, dass soziale Schranken ihren Handlungsspielraum begrenzten; gegen diese Ordnung lehnten sie sich auf. Jeweils ausgehend von einer Schlüsselszene rollt Daniele Muscionico die Geschichte jeder Frau auf. Ihr empathischer Blick und die sorgfältige Recherche prägen die Texte. Mit den oft limitierten und limitierenden Quellen geht sie elegant um: Sie nähert sich den Porträtierten fragend und erahnt ihre Dilemmata als Frauen ihrer Zeit. Die Sammlung wirkt wie ein sehr anschaulich geschriebenes Lexikon. Genauso eindrücklich wie die Texte sind auch die Fotos: Allein der durchdringende Blick der Reiseschriftstellerin Ella Maillart spricht Bände.

«Hoffentlich der Anfang einer mehrbändigen Reihe», wünschte sich die «Sonntags-Zeitung» 2011 bei der Ersterscheinung. Nun hat Daniele Muscionico zwar keinen zweiten Band geschrieben, aber den ursprünglich 24 Portraits sechs weitere hinzugefügt, darunter jene von zwei Frauen, die aus dem Schatten des Vaters beziehungsweise des Ehemanns hervorgetreten sind. Marie Walden, Tochter und Biografin von Jeremias Gotthelf, war selbst Schriftstellerin. Und Adele Duttweiler-Bertschi beeinflusste die Strategie ihres Mannes bei der Gründung und Leitung der Migros massgeblich.

Es sind Schlaglichter auf Biografien, die teils fast ein Jahrhundert umfassen. Nach der Lektüre bleibt die Leserin oft hungrig und möchte mehr wissen über den Antrieb der Porträtierten und den gesellschaftlichen Kontext, in dem sie lebten. Muscionico nimmt vor allem ihre beruflichen Leistungen in den Blick, Privates interessiert sie weniger. So erfahren wir nur am Rand von der Liebe der Kommunistin Mentona Moser zu Frauen, und auch der Spagat, den andere Protagonistinnen zwischen Care-Arbeit und politisch-beruflichen Ambitionen machen mussten, ist kaum ein Thema. Das begrenzte Format von vier Seiten (geschuldet der Auftraggeberin – die ersten Portraits entstanden für die «Weltwoche») zwingt zur Reduktion. Umso erfreulicher ist der Anhang mit weiterführenden Literaturhinweisen. Und so endet der Band mit einer weiteren Überraschung: Von fast jeder Frau existiert eine Biografie, oft älteren Datums, die darauf wartet, wieder entdeckt zu werden. Denn was Daniele Muscionico zum Glück des lesenden Publikums tut, das taten schon Generationen von Frauen vor ihr: Vorbilder suchen und über sie schreiben.

Daniele Muscionico: «Starke Schweizer Frauen. 30 Porträts». Limmat, Zürich 2021; 200 Seiten, 34 Franken.

Christina Caprez ist freie Journalistin und Autorin.

  • N° 2/2022

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