Mein Geburtsland spielt sich immer gern als Musterland auf», schreibt der Schweizer Autor Daniel de Roulet. «Es tut so, als könne es alle seine politischen Konflikte im Konsens und gewaltlos lösen.» Ist das denn nicht so? Nun, es gibt Gründe, an der offiziellen Version der Geschehnisse rund um die Entstehung des Kantons Jura zu zweifeln, denn eine Reihe von Ungereimtheiten wurden unter den Teppich gekehrt. So lautet die These von de Roulets Roman, dessen deutsche Übersetzung den Vorwurf bereits im Titel führt: «Staatsräson», also staatliche Interessenpolitik, die notfalls Gesetze zurechtbiegt.
So wurden im Herbst 1977 jurassische Separatisten für ihre Anschläge auffällig mild sanktioniert, während zwei deutsche RAF-Mitglieder, die sich einer Grenzkontrolle widersetzten, sehr hart bestraft wurden. Darin konnte man eine Botschaft erkennen: Terrorismus ist etwas Ausländisches; die Aktionen der Jurassier sind dagegen harmlos. Doch eine Reihe von Todesfällen stellte diese Sichtweise in Frage. Der Berner Soldat Flükiger wurde auf französischem Boden von einer Granate zerfetzt aufgefunden. Auch ein Wirt aus der Ajoie kam gewaltsam zu Tode. In beiden Fällen sprachen die Behörden sofort von Suizid und unterbanden weitere Abklärungen. Die Ermordung eines Polizisten wurde seinem Mitarbeiter angelastet. Und nicht zuletzt wurde die RAF-Geisel Hanns Martin Schleyer im nahen Mulhouse tot aufgefunden.
Hatten die Béliers, die jurassischen Separatisten, die Morde auf dem Gewissen? Steckten sie mit den RAF-Terroristen unter einer Decke ? Alles Fragen, die Bundesrat Kurt Furgler mit einem klaren Nein beantwortet haben wollte. Nichts sollte die Gründung des neuen Kantons gefährden, auf die der Justizminister so lange hingearbeitet hatte. Doch wie weit hatte er es dazu mit der Staatsräson getrieben und Justiz, Medien und Stimmvolk manipuliert? Diese Frage harrt noch immer einer Aufarbeitung, kritisiert de Roulet, «zumal die Protagonisten alle schweigen und ihre Geheimnisse ins Grab zu nehmen gedenken».
Wo Justiz und Historiker versagen, schlägt die Stunde der Literatur. De Roulet verpackt die Fakten und offenen Fragen in die Geschichte einer fiktionalen Recherche. Als Hauptfigur lässt er den legendären Reporter Niklaus Meienberg auf seinem Motorrad über die Hügel des Jura rasen. «Niklaus Meienberg gehört zu denen, die es gewagt haben, am Lack unseres einvernehmlichen Idylls zu kratzen», attestiert er ihm. Der hartnäckige Rechercheur ist eine stimmige Wahl für die Zwecke seines Buchs. Mit ihm und Furgler lässt er die Staatsräson und die schonungslose Wahrheitssuche in zwei starken Charakteren personifiziert aufeinanderprallen. Meienberg empfindet Abscheu, aber auch Respekt vor Furglers raffiniertem Umgang mit der Macht. «Mir imponiert ein Typ, der weiss, was er will – ein neuer Kanton muss her – Punkt.»
Die Recherche-Story rahmt de Roulet als Ich-Erzähler und bemüht sich, Fakten und Fiktion sauber zu trennen. Den aufklärerischen Furor überlässt er Meienberg, während er selbst etwas schulmeisterlich auftritt. «Hier endet die Arbeit des Ermittlers, zu mehr als Hypothesen hat es ihm nicht gereicht. Mehrere Stimmen haben sich dagegen erhoben, dass jemand der Wahrheit auf den Grund geht.» De Roulets eigene Haltung bleibt dabei seltsam unterbelichtet. Immerhin hatte er 1975 einen Brandanschlag auf Axel Springers Chalet in Gstaad verübt. Zur Jurafrage schreibt er, der im Südjura aufgewachsen war, er «sympathisierte mit der Sache der Béliers, ohne ihnen jedoch anzugehören». Die grimmigen Béliers strebten immerhin eine autonome Republik Jura an, und sie hatten Zugang zu Gewehren und Granaten. So könnte einem beim Lesen des minutiös recherchierten Romans «Staatsräson» die verstörende Frage einfallen, wo denn eigentlich Daniel de Roulet im Herbst 1977 war.
Daniel de Roulet: «Staatsräson». Übersetzt von Yves Raeber. Limmat, Zürich 2021; 112 Seiten, 28 Franken.
Florian Bissig ist Kulturjournalist und literarischer Übersetzer.