Aus der Herzkammer

Schimmeltomaten

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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 09. Oktober 2020

Im Winter vor genau vierzehn Jahren sass ich in einer Jogginghose in einem Yogainstitut in einem bereits damals hippen Wiener Gemeindebezirk.

Ich hatte mich zu diesem Yogakurs angemeldet, um Kraft- und Dehnungsübungen auszuführen, weil ich etwas für meinen Körper tun wollte und weil ich mich fett, unförmig und unattraktiv fühlte.

Stattdessen sitze ich in meiner Jogginghose auf einer nach altem Schweiss stinkenden, verschimmelten Yogamatte und muss mir einen zwanzigminütigen Vortrag über vedische Ernährung anhören.

Das Thema des Tages ist: Die Tomate.

Die Tomate sei völlig unvedisch, erklärt uns die Leiterin.

Die Tomate erzeuge nichts als Hitze und Ungleichgewicht.

Die Tomate sei verstörend für die sogenannte Mitte, was immer das sein soll.

Die Tomate sei zu vermeiden.

Eine Frau, die zu meiner Linken ebenso wie ich auf einer nach altem Schweiss stinkenden Schimmelmatte sitzt, platzt plötzlich heraus:

«Jaaa! Jaaa! Ich erlebe es genauso! Tomaten haben mir immer so eine Hitze gemacht! So eine innere Unruhe! So eine… so eine…. wie kann ich sagen?»

Der Mann auf dem stinkenden, verschimmelten Altschweissplastikteppich zu meiner Rechten wirft ein:

«Wut? So eine Wut?»

«Jaaa! Jaaa! Genau! So eine Wut! So eine innere Wut!» nimmt die zu meiner Linken dankbar und begeistert den Einwurf an.

Dadurch war ein allgemeines Kommentieren losgetreten und alle riefen von ihren perfiden Pilznährböden aus Schaumstoff ihre Kommentare in den Raum.

«Ja, diese Tomatenhitze macht diesen inneren Zorn in der Mitte…»

«Deshalb sind die Italiener so aggressiv.»

«Gazpacho gegen die Hitze ist das absurdeste überhaupt…»

«Ja voll! Gazpacho gegen Hitze ist absurd!»

«Tomaten heizen genauso auf wie Fleisch…»

«Ja! Fleisch macht nur Hitze und sonst gar nichts.»

«Fleisch macht Hitze und Zorn…»

Da sagt die Leiterin:

«Das ist ein sehr wesentlicher Punkt!

Fleisch macht Hitze.

Fleisch macht Zorn.

Wer Fleisch vermeidet, findet innere Ruhe.

Findet inneren Frieden.

Wer Fleisch meidet, findet Frieden!»

Ruhe.

Von allen Stinkmatten nickt es.

Vor mir sagt nun einer:

«Wie Shakabala Vishnakrasnaya, der das Fleisch mied und so seine Heimat fand!»

Von hinten höre ich sagen:

«Wie der tausendäugige Phönix Bikarishnavassakrassana, der das Fleisch mied und seine Berufung fand!»

Und ich drauf:

«Wie Adolf Hitler, der das Fleisch mied und seine Eva Braun fand.»

  • N° 12/2020

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