Der ehrliche Klappentext

«Paradies möcht ich nicht» von Eric Bergkraut

Eine Zürcher Protestantin und ein Wiener Jude im Schweizer Exil verlieben sich im Frühjahr 1943 auf einer Wiese in Zürich. Im autobiografischen Roman erzählt der Filmemacher Eric Bergkraut die Liebesgeschichte seiner Eltern – und was der Strudel der Welt­geschichte mit ihnen machte.
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Freitag, 18. Oktober 2019

Die 16jährige Louise ist eine engagierte Protestantin aus Zürich und der zehn Jahre ältere Felix ein Jude aus Wien, der Krieg und Flucht hinter sich hat. Diese sehr unterschiedlichen Menschen begegnen sich im Frühjahr 1943 auf einer Wiese in der Stadt Zürich. Das Treffen ist der Beginn ihrer ungewöhnlichen Liebe – und der Ausgangspunkt des Romans Paradies möcht ich nicht.

In seinem autobiografischen Buch spürt der Regisseur und Filmemacher Eric Bergkraut sieben Jahrzehnte später dem Leben und Schicksal seiner Eltern und Verwandten nach, in dem sich auch ein Stück Welt­geschichte spiegelt.

Im Zentrum der Erzählung stehen seine Eltern Louise und Felix. Bergkraut beschreibt die Kindheit seiner Mutter im Zürich der Kriegsjahre. Ihr Vater verlässt die Familie, Louise erlebt früh sexuellen Missbrauch durch den Coiffeur, später vom Lehrmeister in der Druckerei, und schliesslich macht auch der evangelische Pfarrer der frommen Louise Avancen. Die junge Frau flüchtet sich in die Literatur, besucht Theatervorstellungen und lernt Gedichte auswendig, als sie an einem Sommerabend auf den lebenshungrigen Felix trifft.

Dieser hat, als er sich in Louise verliebt, bereits einiges von der Welt gesehen: 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, muss er als Jude sein Jurastudium in Wien abbrechen. Felix ist da gerade einmal 21 Jahre alt. Kurze Zeit später gelingt ihm die Ausreise nach Frankreich, wo er Arbeitseinsätze in der Normandie leistet. Später heuert er bei der Fremden­legion in Marseille an. Nach einem Aufenthalt in Algier kehrt er zurück ins von den Nazis besetzte Frankreich und landet in Gefangenschaft. Daraus gelingt ihm die Flucht in die Schweiz. Im Schweizer Exil trifft er später auf seine Eltern — er hatte ihnen 1942 falsche Papiere besorgt.

Eric Bergkraut erzählt seine Familiengeschichte nicht chronologisch, sondern in Rückblenden. Dabei verbindet er eigene Kindheitserinnerungen mit biografischen Skizzen seiner Verwandten. So tauchen neben seinen Eltern die Brüder des Vaters auf, aber auch die Grosseltern Rudolf und Aranka Bergkraut und seine ­Geschwister Catherine und Edmond.

Viel Schatten auf die Familie wirft das Schicksal des introvertierten Onkels Theo, der als Mathematiklehrer in Algerien lebt und in den 1960er Jahren Suizid begeht. Fortan schreibt Bruder Felix im Namen des verstorbenen Theo Briefe an die Eltern, um den Tod des geliebten Sohnes zu verheimlichen. Auch nicht besonders glücklich verläuft die Ehe zwischen Felix und Louise: Sohn Eric muss handgreifliche Auseinandersetzungen miterleben. Seine Mutter wird depressiv und stürzt sich in eine unglückliche Affäre – worauf auch der Vater fremdgeht. Im provinziellen Aarau, wo die Familie lebt, bleiben Louise und Felix stets Fremde.

Bergkraut schreibt tabulos, ohne dabei dem voyeuristischen Drang zu verfallen, familiäre Abgründe auszuleuchten. Eher lässt sich der Autor von einem Staunen darüber leiten, wie unterschiedlich die Charaktere und Lebensläufe sind, die unter dem Dach seiner Familie zusammengefunden haben. Das Rätselhafte der eigenen Geschichte bleibt. Bezeichnend ist eine Stelle im Buch, in der er sich an die Badibesuche in Aarau mit dem Vater erinnert. Der trug stets eine bis an die Knie reichende Badehose, um eine lange Narbe zu verdecken. Von seinem Vater erfuhr er zeitlebens nie, woher die Verletzung stammte. Bergkraut sinniert darüber, dass jeder Vater das Recht habe, Geheimnisse vor dem Sohn zu bewahren. Genau dies ist auch die Stärke des biografischen Buches: ein Familienroman zu sein, der Brüche und Leerstellen aushält.

Eric Bergkraut: Paradies möcht ich nicht. Limmat-Verlag, Zürich 2019; 200 Seiten; 32 Franken.

  • N° 18/2019

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