Volker Demuth wuchs in den 60er Jahren in einer oberschwäbischen Kleinstadt auf. Seine Ferien verbrachte er als Kind ganz in der Nähe, auf dem Bauernhof der Grosseltern. Jahrzehnte später kehrte er nach Philosophie- und Geschichtsstudien in Tübingen und Oxford und einer Professur für Kulturtheorie in die Heimat zurück und bezog ein Haus an der Donau. Entlang dieser drei «Lebensorte» in Oberschwaben schreibt der 58jährige seinen poetischen, autobiografischen Essay. Er begibt sich dabei auf die Spur der Geschichte, die sich «in der Landschaft einlagerte», und versucht zu ergründen, wie diese Landschaft ihn prägte.
Seine Erkundung setzt mit Erinnerungen an den Dorfbauernhof ein. Als Stadtkind beobachtete er die drei Kühe, die Milch lieferten und, eingespannt ins Fuhrwerk, im Sommer den Heuwagen zu ziehen hatten. Und er hörte den Grossvater wie selbstverständlich über die aufrührerischen Bauern der Reformationszeit reden. 1525 hatten sich diese im Hof der Grosseltern versammelt und gegen die Willkürherrschaft des Adels verschworen. Die Kindheitserinnerung regt Demuth an, über das Trauma des Bauernkriegs nachzudenken. Er vermeint zu spüren, dass Martin Luthers Bannspruch, die aufständischen Bauern seien wie «tollwütige Hunde» totzuschlagen, bis heute nachwirkt. Der Verrat des Gelehrten Luther habe sich der Landschaft aufgeprägt, «dunkel und bleiern wie Drucklettern dem Papier». Noch immer sei hier ein Intellektueller einer, der Misstrauen hervorruft. Ein Misstrauen, das Demuth später als Rückkehrer auch selber erfährt, weil er die Sprache der «Immerdagewesenen» nicht mehr spricht.
Demuth spürt Vergangenem nach, das über Familienlegenden von Generation zu Generation tradiert wird. So erzählt er, wie der Grossvater «als Geschlagener, als Überlebender» aus dem 1. Weltkrieg zurückkehrte. Wie dieser später vorübergehend in Gestapo-Haft kam, weil er den Nationalsozialismus als «zu laut, zu pomphaft, zu selbstherrlich» ablehnte. Ein Onkel dagegen begeisterte sich für den uniformierten Drill, er fiel an der Ostfront. Darüber sprach der Grossvater nur andeutungsweise. Er wollte «das ewig unheilvolle Einwirken der Macht auf den Bauernhof» mit Schweigen in Schach halten.
Auch an seinem zweiten oberschwäbischen Lebensort, in der «Randlage Kleinstadt», entdeckt Demuth als Jugendlicher «Spuren eingelagerter Geschichte». Er stösst auf die wasser- und stromlosen Holzbaracken für Flüchtlinge aus ehemaligen deutschen Ostgebieten. Ihm wird klar, dass es die gleichen Baracken sind, in die einst die Juden des Städtchens getrieben wurden, vor dem Abtransport ins KZ.
Demuth umkreist in seinem Essay immer wieder die Frage, wie die «deutsche Geschichte des Elends» noch immer in den Orten präsent ist. Im zweiten Teil der Erinnerungen sucht er aber auch nach Spuren seiner Emanzipation. Als Arbeiterkind wächst er in «krasser Buch- und Lesefeindschaft» auf. Dank Schule und älterer Freunde entdeckt er Nietzsche und Büchner. Irgendwann zieht er weg. Doch es ist im Grunde genau die intellektuelle Distanzierung von seiner Herkunft, die ihm später hilft, sich dieser wieder anzunähern: über das Schreiben, weil zu schreiben für ihn auch immer mit der Erinnerung zusammenhängt, woher er selber kommt.
Auch räumlich kehrt Demuth wieder zurück nach Oberschwaben. Als Schriftsteller bezieht er nach Jahrzehnten der Abwesenheit ein «Haus am Fluss». Die «ungerade, gekrümmte und mäandernde» Donau regt Demuth im letzten Teil seines Buchs zu philosophischen, zuweilen weitschweifenden Betrachtungen über das Verfliessen der Zeit an. Das autobiografische Erzählen tritt nach und nach in den Hintergrund. Mitunter kommt nun der Kulturtheoretiker dem Prosaisten in die Quere.
Die Selbstbefragung Volker Demuths ist trotzdem eine eindrückliche Auseinandersetzung mit Herkunft, fern jeder Heimattümelei. Auch wenn man sich auf seiner «Besichtigung einer Lebenslandschaft» dann und wann wünscht, mehr darüber zu hören, wie ihn Beziehungen und Menschen prägten – nicht nur «die in der Landschaft eingelagerte Geschichte».
Volker Demuth: Niederungen und Erhebungen. Besichtigung einer Lebenslandschaft. Matthes & Seitz, Berlin 2019; 320 Seiten; 30 Franken.
Samuel Geiser ist freier Journalist in Bern.