Das Ölbild Tanz auf der Alp der Künstlerin Martha Stettler ist 160 × 129 cm gross und befindet sich im Privatbesitz ihrer Grossnichte Luzia.
Sonntagstenue ist angesagt: Die meisten Männer tragen Berner Trachten, einige Frauen wagen sich in luftigen Sommerröcken aufs Parkett. Beschwingt drehen die Paare ihre Runden unter freiem Himmel. Die Tänzer scheinen ihre Partnerinnen fest im Griff zu haben. Nur die grasenden Kühe lässt der fröhliche Trubel unberührt.
Jeder Tag beginnt für mich mit dem Tanz auf der Alp: Während ich den ersten Milchkaffee geniesse, fällt mein Blick auf dieses grossflächige Ölgemälde über dem Esstisch und stimmt mich positiv auf alles Kommende ein. Die lüpfigen Klänge der Ländlerkapelle wehen über die grüne Wiese zu mir. Ich höre Kinderlachen und atme frische Bergluft …
Gemalt hat diese vergnügte Szenerie meine Grosstante Martha Stettler. «Suufsunntig auf Chüehdungel» hat sie das Bild auch genannt. Als Entstehungszeit ist auf der Rückseite der Leinwand 1905–1911 vermerkt. Martha Stettler war eine begnadete Künstlerin und lebte vorwiegend in Paris. Gemeinsam mit ihrer baltischen Lebenspartnerin Alice Dannenberg leitete sie während Jahrzehnten die international besuchte Académie de la Grande Chaumière in Montparnasse. Alberto Giacometti und Meret Oppenheim gehörten zu ihrem Schülerkreis. Nicht nur als Lehrerin, sondern auch als Malerin hatte die gebürtige Bernerin beachtlichen Erfolg: Mit ihrem impressionistischen Stil gewann sie auf internationalen Ausstellungen namhafte Auszeichnungen, so 1910 an der Weltausstellung in Brüssel oder 1913 an der XI. Internationalen Kunstausstellung in München.
Paris war ihr Lebensmittelpunkt. Aber regelmässig im Sommer besuchte sie ihre Verwandten in der Schweiz und verbrachte stets einige Wochen in Lauenen im Berner Oberland. Die wilde, unberührte Natur muss für sie das totale Gegenprogramm zum flirrenden Grossstadtleben gewesen sein: Viele Berg- und Landschaftsbilder zeugen von ihrer Faszination.
Ich stelle mir meine Grosstante als stille, dankbare Beobachterin am Rande dieser Festgemeinschaft vor. Vielleicht hat sie es sich auf einer Decke im Gras bequem gemacht – ihr Skizzenheft immer in Griffnähe. Ihrem geschulten Auge entgeht nichts: hier die leicht zerknitterte Schürze eines Mädchens, dort eine gewagte rosafarbene Hutschleife, da ein paar Hände, tief in die Hosentaschen gesteckt. Wie eine Fotografin hat sie einen Moment der bewegten Gesellschaft eingefangen: Tanzbein und Hüftschwung frieren ein, ebenso die Hand am Mostglas.
Und doch geht bei aller Konzentration auf das Menschliche der Blick aufs Ganze nicht verloren: Mehr als die Hälfte der Leinwand reserviert sie für die imposante Gletscherkulisse. Und macht mit dieser kühnen Komposition die Vergänglichkeit bewusst: Wie schnell sind Bassgeige und Handorgel verklungen …
Dass auch die Gletscher sterben, konnte sie vor über hundert Jahren wohl nicht wissen. Ihre alpinen Sujets sind auch das Dokument einer Zeit, als die Welt nicht unbedingt in Ordnung, aber noch sauberer war.
Luzia Stettler ist Literaturredaktorin beim Schweizer Radio SRF und moderiert die Sendung 52 beste Bücher. 2011 wurde sie für ihre Arbeit als Literaturvermittlerin zum «Schweizer Buchmensch des Jahres» gewählt.