«Kleines Mädchen in Blau» im Original von Amedeo Modigliani.
Meine Grossmutter ist eine liebe, unfreie Frau. Wir haben viel gemeinsam. Zum Beispiel unsere Ängste oder dass wir beide nie die Autoprüfung gemacht haben. Bei meiner Grossmutter war es jedoch ihr Mann, der es ihr ausgeredet hat. Er zog am Monatsende auch ihre AHV ein und verteilte ihr stattdessen ein knapp bemessenes Haushaltsgeld. Ich denke, so wie mein Grossvater haben es viele Männer gemacht oder würden es vielleicht immer noch gerne machen.
Auch ich würde meine Frau am liebsten auf Schritt und Tritt kontrollieren, doch scheitert dieser Traum an meiner monströsen Faulheit und meiner noch monströseren Leichtgläubigkeit. Man könnte mir jedes Budget vorlegen, ich würde es vorbehaltlos unterschreiben. Abgesehen davon, dass nie jemand auf den Gedanken kommen würde, mir ein Budget vorzulegen.
Zurück zu meiner Grossmutter. In den Neunzigern kam es zu einer Semi-Emanzipation. Inspiriert von einer Bekannten arbeitete sie aushilfsweise im Altersheim, machte Yoga und besuchte einen Malkurs an der Klubschule Migros. Dort entstanden eine Reihe von Portraits, die allesamt Grossmutters Katzen in der Folge ihres Ablebens zeigten. Die fertigen Gemälde hängte sie im Wohnzimmer an die Wand. Zwischen all dem verstorbenen Katzenvieh hing eines Tages auch ein Portrait von mir mit ungefähr neun Jahren, dem dadurch die Ehre widerfuhr, als einziger Nichtüberfahrener an Grossmutters Wand zu thronen.
Meine Frau meint zwar, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich das ändert. Auf dem Bild trage ich einen grasgrünen Dinosaurier-Pulli mit fulminantem Kragen. Wenn ich daran denke, kommt es mir wie der Inbegriff meiner Kindheit vor. Tatsächlich ist es, genau wie die Katzenbilder, beim Umzug meiner Grossmutter ins Altersheim verschwunden.
Nicht verschwunden ist ein anderes Bild. Es hängt seit über zwanzig Jahren in der Küche meiner Eltern und zeigt das «Kleine Mädchen in Blau» von Amedeo Modigliani – in der Version meiner Grossmutter. Ich habe keine Ahnung, warum sie sich ausgerechnet für dieses Bild entschieden hat. Ich habe Modigliani nie besonders gemocht. All diese schwindsüchtigen Frauen mit leeren Augen kamen mir immer ein bisschen zu dekorativ vor. Wie gemacht für einen Kissenbezug, aber nicht für ein Museum oder gar für eine Küche.
Das Bild meiner Grossmutter aber hat mich immer berührt. Vielleicht gerade weil es nicht besonders gut gelungen ist. Hintergrund und Kleidung sind in beiden Versionen ungefähr gleich, wobei Grossmutters Darstellung aufgrund einer leichten, sicherlich unbeabsichtigten perspektivischen Verzerrung irgendwie enger anmutet. Das Mädchen steht nicht einfach nur im Raum. Es steht in der Ecke. Die grössten Unterschiede sind naturgemäss im Gesicht feststellbar. Modiglianis schwindsüchtiges Mädchen sieht bei Grossmutter so aus, als käme es gerade von den Ferien am Meer oder vom Spielen im Hof zurück. Ein Hauch südländischer Kitsch durchweht ihre Kopie.
Das eigentliche Highlight sind aber die Augen. Irgendwie verrätselt schauen sie in die Welt. Voller Liebe, aber auch voller Angst. Ich kenne diese Augen. Es sind die Augen meiner Grossmutter. Es sind ihre Ängste, die mich so rühren, da sie meine eigenen sind, und, wie ich mir an guten Tagen zu sagen hoffe, meine Menschlichkeit.