

Edward Hoppers «The Lee Shore», 1941. © Heirs of Josephine N. Hopper / 2023, ProLitteris, Zürich. Bild: SCALA Archives
Die Bilder von Edward Hopper begleiten und begeistern mich seit Jahrzehnten. Obwohl sie auf den ersten Blick eine gewisse Ruhe ausstrahlen und nicht reisserisch um die Aufmerksamkeit des Betrachters buhlen, laden sie uns doch immer wieder dazu ein, genauer hinzuschauen. Dabei lässt sich über vielerlei Fragen phantasieren: Wer sind die Leute im Bild, und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Was ist vor der Momentaufnahme, die das Bild darstellt, passiert? Was wird als nächstes geschehen? Was sehen wir alles (noch) nicht? Edward Hoppers Bilder haben meist die Spannung von Schnappschüssen, aus denen man ganze Dramenhandlungen entspinnen kann, wenn man sie lange genug betrachtet.
An «The Lee Shore» (deutsch «Das Ufer in Lee» – also das Ufer, das an der vom Wind abgewandten Seite liegt) fasziniert mich der Kontrast zwischen der vermeintlichen Sicherheit des Hauses am rechten Bildrand und der Unberechenbarkeit der offenen See mit den beiden Segelbooten. Obwohl sie hart am Wind zu laufen scheinen (das Boot rechts hat offenbar gerade durch den Wind gewendet), wirken sie beinahe statisch. Das gilt vor allem für das grosse, dominierende Boot im Vordergrund. Die räumlichen Verhältnisse sind hier bewusst verzerrt: Das Boot fährt viel zu nahe am Ufer, fast meint man, man könnte von der Veranda des Hauses aus noch aufspringen. In der Realität befindet sich kein Haus so nahe am Wasser und das Boot wäre längst auf Grund gelaufen.
Die eigentlich unvereinbaren Gegensätze von Geborgenheit und Abenteuer, von Heimat und Aufbruch, sind hier dicht nebeneinandergesetzt. Zudem ist die Idylle, die das Bild auf den ersten Blick ausstrahlt, trügerisch: Was zunächst nach einem wohlig sommerlichen Tag aussieht, muss eher ein kühler und stürmischer Herbst- oder Frühlingstag sein, zumindest, wenn man nach der Kleidung urteilt, in die sich die zwei Segler im vorderen Boot eingepackt zu haben scheinen.
Will hier jemand sein Zuhause hinter sich lassen, kommt aber doch nicht davon los – weil der Wind uns unaufhörlich zurück zu unseren Ursprüngen weht? Aus der Literaturgeschichte kommen uns die Irrfahrten des Odysseus ebenso in den Sinn wie «Moby Dick», Herman Melvilles Roman über den Walfänger Ahab und dessen verzweifelten Versuche, sich die Natur untertan zu machen. Oder zeigt uns das Bild – wenn wir es von rechts nach links lesen – verschiedene Stadien unseres Lebens: Behütet während Kindheit und Jugend zuhause, als selbständige Erwachsene «in vollem Saft» und mit geblähten Segeln im Vordergrund sowie mit ungewissem Ausgang im Alter am linken Bildrand?
Das Schöne an Hoppers Bildern ist ihre Offenheit für so viele verschiedene Interpretationen. Wie eine Batterie sind sie mit allerlei dramatischem Potenzial aufgeladen. Wie wir sie lesen, wie wir sie einsetzen und auf unser Leben beziehen, hängt ganz von uns selbst ab. Viel Vergnügen bei der Betrachtung.