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Freitag, 09. Dezember 2022

«Mariä Tempelgang» von Tiziano Vecelli, der als Tizian in die Kunstgeschichte einging. Entstanden um 1534/38, Öl auf Leinwand. Zu sehen in den Gallerie dell’Accademia in Venedig.

Die Accademia in Venedig beherbergt die grösste Sammlung venezianischer Meister der Welt. Seit 1344 war der Bau der Sitz einer Bruderschaft, der Scuola grande della Carità. Bruderschaften spielten in der Gesellschaftsordnung der Serenissima eine wichtige Rolle. Sie gaben dem venezianischen Bürger­tum die Möglichkeit, ihren Platz in der Staatsstruktur zu erhalten. Im Ruhm und Glanz ihrer Gebäude widerspiegelte sich ihr Selbstverständnis als Gegengewicht zu den oligarchischen Dogenfamilien.

Napoleon hob diese Gesellschaften auf. Das Gebäude der Scuola grande della Carità integrierte er in eine Kunstakademie, daher der heutige Name. Ich bin häufig in Venedig und besuche praktisch jedes Mal die Accademia. Auch im Herbst dieses Jahres streifte ich von Saal zu Saal mit prachtvollen Kunstwerken. Am Ende des Rundgangs betritt man einen Raum, dessen Struktur und Bemalung noch von der Geschichte zeugt. Manche Besucher, die von der Pracht der vielen Gemälde erschöpft sind, streben hier dem Ausgang zu. Sie übersehen leider ein grossartiges Werk von Tizian, mein persönliches Lieblingskunstwerk in der Accademia: der Tempelgang Mariens.

Das Bild stellt eine Szene aus dem Jakobus-Evangelium dar: Die Eltern Marias gelobten, ihr drei-jähriges Kind zu «opfern» und in den Tempel nach Jerusalem zu bringen. Maria soll die hohen Stufen allein bestiegen haben. Zacharias, der spätere Vater von Johannes dem Täufer, nahm sie in Empfang. Maria blieb bis zu ihrem zwölften Lebensjahr und studierte hier mit anderen Tempeljungfrauen die Bibel. 

Tizian stellt den Moment dar, als Maria die Stufen zum Tempel emporsteigt. Im Hintergrund der Tempel Salomo, der an den Dogenpalast erinnert, ein  Justizpalast. Weisheit und Gerechtigkeit, die beiden grossen Tugenden Salomos, waren die Attribute, die Venedig – zusammen mit der Wohltätigkeit – auch für sich beanspruchte. Wohltätigkeit wiederum ist die Leittugend der Scuola, in der das Bild gemalt wurde.

Tizian lenkt den Blick der Betrachtenden von Repräsentationsarchitektur und ihrer Symbolik ins Zentrum, auf ein selbstbewusstes Mädchen. Er verbindet die Pracht, die Geschichte der Serenissima und der Bruderschaft mit einem einzelnen, besonderen Menschen. Und damit auch mit Gottes Rettungswerk für seine Schöpfung, der Menschwerdung seines Sohns. Das Mädchen, die künftige Mutter Jesu, schreitet mutig, selbstbewusst und heiter seiner Zukunft entgegen. Tief und warm sind die Farben, das Bild scheint von innen heraus zu leuchten, verstärkt durch einen Strahlenkreis um Maria, der ihre Auserwähltheit unter den Menschen hervorhebt, ohne dass sie selbst sich dessen bewusst wird.

Wir Betrachtenden hingegen kennen ihr Schicksal. Wir wissen, welch besonderes Opfer von dieser Frau verlangt werden wird. Welche Trauer und Schmerzen sie als Mutter Gottes erleiden muss. Gerade dieser Kontrast zwischen unserem Wissen und der heiteren Kindlichkeit Mariens macht für mich die Faszination des Bildes aus. Solche Darstellungen von Maria sind eher selten. Das Geschehen von «Maria Opferung» ist heute kaum noch bekannt. Das Jakobus-Evangelium ist nicht kanonisch. Vielleicht gerade aus all diesen Gründen wirken Tizians Gemälde und die Darstellung Mariens auf mich so menschlich, emotional, berührend, lebensbejahend. Wir könnten versuchen, für das eigene Leben diese Freude und Zuversicht zu bewahren, zu der Tizian uns einlädt. Gerade im Advent.

  • N° 11+12/2022

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