Bild oben: Ugo Rondinone, «sechstermaizweitausendundvierundzwanzig», 2024. Acryl auf Leinwand, 400 × 600 cm, Kunstmuseum Luzern, Depositum der Stiftung BEST Art Collection Luzern, vormals Bernhard Eglin-Stiftung. Bild unten: Ugo Rondinone, «siebtermaizweitausendundvierundzwanzig», 2024. Acryl auf Leinwand, 400 × 600 cm, Kunstmuseum Luzern, Schenkung des Künstlers. Fotos: Studio Rondinone
Zwei Gemälde, verwirrend verwandt, stehen riesig im Ausstellungsraum. Beide setzen sich aus nur fünf blauen Flächen zusammen. Von Hellblau über Mittelblau bis zu Nachtblau zeigen die klar umrissenen Flächen eine Landschaft – dies suggeriert jedenfalls das eine der beiden Bilder. Ein blauer Horizont markiert den Seespiegel, darüber erheben sich Berge und der Himmel. Beim anderen Bild ist es etwas vertrackter, es zeigt zwar in denselben Tönen dieselben Flächen, doch sind die Farben anders angeordnet, was eine ganz andere Wirkung erzeugt.
Fast könnte das zweite Gemälde als abstraktes Bild durchgehen, wäre da nicht die Erinnerung ans erste Gemälde, die auch das zweite im Figurativen verortet. Die eigenwillige Beschränkung auf fünf Blautöne macht aus den Sujets Kippbilder. Wie in den bekannten psychologischen Tests erleben wir, wie die Darstellung «kippt»: wie «Landschaft» sich aus den farbigen Flächen herauskristallisiert und auch wieder in die Abstraktion entschwindet.
«sechstermaizweitausendundvierundzwanzig» und «siebtermaizweitausendundvierundzwanzig» zeigen den Urnersee bei Tag und bei Nacht. Der Künstler Ugo Rondinone hält den Blick vom Schiffssteg in Brunnen Richtung Süden fest. Süden, die Himmelsrichtung, aus der seine Eltern in die Schweiz emigriert sind. Süden, den wir gerne mit Sehnsucht, Ferien und angenehmen Temperaturen verbinden und dabei die instabilen politischen Verhältnisse, die Dürren und Migrationsbewegungen gerne vernachlässigen.
Ugo Rondinone steht hier am Ufer des Vierwaldstättersees und malt gerade mit diesen beiden Gemälden seine Heimat. Hat er wirklich an je einem Tag diese Bilder gemalt? Dies jedenfalls behaupten die Titel der beiden Kunstwerke. Doch das ist Bluff! Die Gemälde sind am 6. und am 7. Mai dieses Jahres fertiggestellt worden, nachdem sie über Monate im New Yorker Atelier des Künstlers geschaffen wurden. Die wässrigen Acrylschichten benötigen viel Zeit, um zu trocken. Nur so lässt sich verhindern, dass die Farbtöne ineinanderfliessen.
Aus der Nähe lassen sich nicht nur die Malschichten, sondern auch die schmalen frei gebliebenen Stellen zwischen den einzelnen Farbflächen erkennen. Der Künstler legt offen, wie das Werk gemacht wurde, und betont an den fleckigen Bildrändern sein Handwerk.
Aktuell sind die beiden Gemälde im Kunstmuseum Luzern zu sehen. Sie stehen mit ihren 4 × 6 Metern, Rücken an Rücken montiert, frei im Raum. Wer beide Bilder sehen möchte, muss um die Leinwände herumgehen. Wie auch draussen im Freien sind Tag und Nacht nicht gleichzeitig zu erleben. Ugo Rondinone liebt solche Systeme, die uns allen vertraut und universell verständlich sind: Tag und Nacht, 12 Monate, 24 Stunden, die Farben des Regenbogens, gross und klein, leicht und schwer …
Als Bildhauer nimmt er sich Motive vor, die für Skulpturen komplett ungeeignet sind: leiser Schneefall, starker Regen, ein mächtiges Gewitter, die Angstlust vor Monstern, ein Fischschwarm oder das Gefühl, winzig zu sein. Als Maler bezieht sich Ugo Rondinone darüber hinaus auf die bedeutendsten Namen der Schweizer Kunstgeschichte. Seine Ansichten des Vierwaldstättersees setzen die Tradition von Ferdinand Hodler, Félix Vallotton oder Hans Emmenegger fort.
Aber wieso die beiden Gemälde im Kunstmuseum anschauen anstatt selbst draussen auf dem Steg stehen? Weil diese Kunst eine individuelle Erfahrung in ein gemeinschaftliches Erlebnis übersetzt: Diese Gemälde berichten nicht einfach von der Schönheit der Natur, sondern führen die Suche nach dem Erhabenen fort. Sie sind spektakulär, aber kein Spektakel. Sie zeigen den Vierwaldstättersee, meinen aber die Menschheit im Verhältnis zur Natur generell, ihr Blau wirkt ruhig, aber berichtet auch vom Klimawandel, von Hochwasser, Trockenheit und von der Kontemplation, die uns neuen Elan verleiht, um zu handeln.
Ugo Rondinones Ausstellung «Cry Me a River» ist noch bis Sonntag, 20. Oktober 2024, im Kunstmuseum Luzern zu sehen. kunstmuseumluzern.ch