

Gustave Courbets «L’Origine du monde», 1866, ist heute im Musée d’Orsay in Paris ausgestellt.
Ich bin Kunstliebhaber und Leiter einer Ausbildungsinstitution für Kunst und Design, die sich selber als progressiv versteht. In diesem Zusammenhang beschäftigen mich folgende Fragen:
– Ist Provokation heute noch eine legitime künstlerische Strategie?
– Soll das Kunstpublikum vor toxischer Kunst geschützt werden, oder ist ihm alles zumutbar?
– Hat sich die Kunst in den Dienst der richtigen Sache zu stellen, oder ist sie frei?
Diese Fragen scheinen mir drängend und ganz in den heutigen Diskursen verortet. Kunstproduktion und -rezeption haben nie in einem bezugsfreien Rahmen stattgefunden, gesellschaftliche Ansprüche haben immer schon existiert. Darum habe ich darauf verzichtet, für diese Rubrik ein von mir besonders geschätztes Werk der Gegenwartskunst zu beschreiben.
Stattdessen habe ich ein kleines Bild mit dem Titel «L’Origine du monde» von Jean Désiré Gustave Courbet (1819–1877) gewählt. Eines der bekanntesten Skandalbilder der Kunstgeschichte. Es scheint geeignet, weil sich daran vielleicht aufzeigen lässt, dass sich Courbet und seine Zeitgenossen schon vor 150 Jahren denselben Fragen stellten.
Courbet wuchs nahe der Schweizer Grenze im französischen Jura auf. Er stammte aus einer wohlhabenden Weinbauernfamilie, war ein Schulversager und als Maler weitgehend Autodidakt. Ab 1839 lebte er in Paris. Bald wurde er zum wichtigsten Vertreter des Realismus, einer Kunstrichtung, die man heute als sozial engagiert bezeichnen würde. Er malte die einfachen Leute, wie er sie sah – Arbeiter, Bauernmägde, Kinderarbeiter – und wies so auf soziale Missstände hin.
Damit empörte er die bürgerliche Gesellschaft, Klerus und Adel; seine malerisch brillanten Werke wurden wiederholt von den Salonausstellungen abgelehnt. Das war jedoch eine kalkulierte Provokation, die ihn in ganz Europa bekannt machte. Er inszenierte sich als Künstler und Bohémien, als gefallsüchtiger Bauerntölpel in der feinen Gesellschaft, gleichzeitig als deren Kritiker und ungeheuer produktiver und erfolgreicher Geschäftsmann.
Pornografie scheint immer wieder der Motor für die massenhafte Verbreitung und Kommerzialisierung neuer Bildmedien zu sein. Als ab den 1840er Jahren die Fotografie der Malerei nachhaltig Konkurrenz zu machen und sie vom Abbildungsdiktat zu befreien begann, kann das dem aufmerksamen Courbet nicht entgangen sein. Es ist sogar anzunehmen, dass es sich beim voyeuristischen «L’Origine du monde» bereits um ein als Pornografie zirkulierendes Bildmotiv handelt. Mit der mehrdeutigen Titelgebung erlaubt sich Courbet eine weitere Provokation und einen künstlerischen Aneignungsakt.
Das Ölbild mit den bescheidenen Massen von 46 mal 55 Zentimetern ist 1866 als Auftragswerk für den türkischen Diplomaten Halil Serif entstanden. Nach seinem Bankrott wurde es mehrmals weiterverkauft, zwischenzeitlich war es gar Kriegsbeute der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee. Später gehörte es dem Psychoanalytiker Jacques Lacan, der es privat hinter einem extra angefertigten Schutzbild verbarg.
Noch 1977 entschied man sich, aus Furcht vor einem neuerlichen Skandal, das Bild nicht in der grossen Courbet-Retrospektive zu zeigen. Heute gehört es dem französischen Staat und hängt seit 1995 im Musée d’Orsay, wo es vor Anschlägen besonders bewacht werden muss. Die Frage, wie weit Kunst gehen darf, beschäftigt noch immer.