Direkt ins Gesicht: Das Werk «A Jew is Dead» von Boris Lurie. 1964, Farbe und Collage auf Leinwand, 295 × 169,5 cm. Bild: Boris Lurie Art Foundation
Mit Boris Lurie verbindet mich nicht ein einzelnes Werk, sondern eine ganze Ausstellung. Es ist Winter 2015, ich probe gerade am Theater HAU Berlin die Arbeit «Martin Luther Propagandastück» und besuche an einem der freien Nachmittage zusammen mit dem Hauptdarsteller, Malte Scholz, eine Werkschau des Künstlers.
Die Ausstellung im Jüdischen Museum umfasst mehrere Bilder und Skulpturen, es handelt sich um eine Mixtur aus Collagen, expressiven Malereien kombiniert mit gedruckten Fotografien – künstlerische Formen, wie wir sie beide aus der Pop-Art wiederzuerkennen glauben. Anders jedoch als bei den ironisch-verspielten Arbeiten des Pops, die mit der kapitalistischen Warenwelt Amerikas flirten, sind hier Fotos von Konzentrationslagern eingearbeitet. Auf nicht wenigen dieser Bilder prangen wie Absperrbänder die Wörter «Jew», «jewish» oder «A Jew is dead».
Nach etwa anderthalb Stunden verlassen Scholz und ich die Ausstellung, und wir sind beide ein wenig enttäuscht. Wir teilen das Gefühl, dass die Arbeiten auf uns irgendwie eindimensional gewirkt haben. Sie vermitteln, so klagen wir, eine eindeutig kritische politische Botschaft, und diesen Umstand empfinden wir als platt. Wir vermissen das Mehrdeutige, Offene, das wir beide als wichtiges Attribut gelungener zeitgenössischer Kunst werten.
Warum ist das so? Wir verschrauben uns mehr und mehr in eine lebhafte Diskussion. Lurie, erklären wir uns gegenseitig, vermasselt uns das Spiel der individuellen Selbstversenkung, welche die Moderne und die zeitgenössische Kunst nach unserem Verständnis stets ermöglicht haben. Die Meditation in die Tiefen eines Rothko oder in das kühle Vexierspiel eines Warhol kollabieren bereits an der Bildoberfläche. Der Platz des Betrachters wird hier nicht mit der unendlichen Freiheit der Interpretation offengehalten, sondern von Anfang an besetzt. Die Betrachterin wird gezwungen, sich mit einem Gegenüber und mit dessen verwundbarer Identität – und was heisst das anderes als dessen verwundbarer Körper – auseinanderzusetzen.
Luries Bilder sagen: Du, der Betrachter, und ich, der Künstler, sind niemals dieselben. Wir haben unterschiedliche Leben, unterschiedliche Biografien. Du bist nicht ich, ich bin nicht du. Jew. Zwischen uns befindet sich eine Grenze und die ist real. Wenn du mich anschauen willst, wirst du dich mit mir und meiner hässlichen Geschichte auseinandersetzen müssen. Ansonsten lass es lieber bleiben, sammle Kunst und geh nach Hause.
Kurz: Bei Lurie werden wir nicht zu jener Party der individuellen schrankenlosen Freiheit eingeladen, die von so vielen Künstlerinnen und Sammlern des 20. Jahrhunderts gefeiert wurde. Lurie ist ein Spielverderber. Später schreibe ich in mein Notizbuch: «Keine Überraschung, ist Lurie nie ein sehr begehrter Exponent auf dem Kunstmarkt geworden.» Es geschieht das Unvermeidliche: Weil er mich ablehnt, beginne ich, mich mit ihm zu identifizieren.
2020 fragt mich der Verein «Omanut-Jüdische Kultur in der Schweiz» an, einen Text anlässlich seines achtzigjährigen Bestehens zu verfassen. Ich nehme an und nutze die Gelegenheit, über meine Grossmutter zu schreiben. Als sie 2009 starb, erfuhren wir, dass sie ursprünglich aus einer jüdischen Familie stammte. In den Jahren 1944/45 musste sie sich über Monate in einer Scheune in der Ostslowakei verstecken, während ein Grossteil ihrer Familie in den deutschen Konzentrationslagern ihr Leben liess.
Während ich an dem Text schreibe, muss ich immer wieder an Maltes und meinen Ausstellungsbesuch und unsere Diskussion im Winter 2016 denken. Über die Website «artsy» erwerbe ich ein Bild von Boris Lurie. Es hat eine Grösse von 30 × 50 Zentimeter und kostet 4000 Euro. Das Werk hängt über dem Sofa in unserer Wohnung und trägt den Titel «Bleed».