Otto Dix, 1940, « ufbrechendes Eis». Öl und Tempera auf Holz, 65 × 85 cm. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Depositum der Sturzenegger-Stiftung
Die Kunst von Otto Dix wühlt mich immer wieder aufs neue auf. Während eines Museumspraktikums in Dresden begegnete ich seinem Triptychon «Der Krieg». Im Gemälde, das er zu Beginn der 1930er Jahre schuf, verarbeitete er persönliche Erlebnisse an den Fronten des Ersten Weltkriegs.
Mittlerweile bin ich Kurator am Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen – und Otto Dix begleitet mich auch an diesem Ort. In meiner Arbeit setze ich mich vor allem mit seiner Schaffensphase in der Zeit seines Exils am Bodensee auseinander. Aus dieser Periode stammt auch sein Gemälde «Aufbrechendes Eis», das bei uns in der Dauerausstellung zu sehen ist.
Nach ihrer Machtergreifung 1933 klagten die Nazis Otto Dix der «Wehrkraftzersetzung» an. Seine völlig unheroischen Kriegsdarstellungen waren ihnen ein Dorn im Auge. In der Folge wurde Dix die Professur an der Kunstakademie in Dresden entzogen. Er wählte die innere Emigration und liess sich auf der deutschen Seite des Bodensees nieder.
Das Bild «Aufbrechendes Eis» entstand 1940. Also in dem Jahr, in dem General Guisan den Rückzug ins Reduit im Fall eines deutschen Angriffs verkündete und gleichzeitig Persönlichkeiten wie der Theologe Karl Barth und der Schaffhauser Stadtpräsident Walther Bringolf gegen das Anpassertum der offiziellen Schweiz ankämpften.
An Dix’ Bild fasziniert mich seine Doppelbödigkeit. Auf den ersten Blick ist es einfach eine dramatische Wetterstimmung, die er malt. Auf der metaphorischen Ebene scheint der Regenbogen über der Steckborner Kirche Zuversicht zu verströmen – die Hoffnung auf friedlichen Schweizer Boden, der für den verbannten Künstler ennet der Grenze nicht erreichbar ist, noch nicht einmal übers Eis, welches das Militär zerstört hat.
Bei genauerem Hinschauen rückt allerdings eine andere Deutung in den Vordergrund. Ziehen Regen und Wolken wirklich allein vom aggressiven, kriegerischen Nazi-Deutschland über den See herein, und scheint die Sonne tatsächlich nur von Südwesten her? Regen und Wolken fegen ebenso über das Schweizerland; der Regenbogen, dessen Krümmung über den See weist, wird bald wieder verblassen.
Ob Dix über die inneren Kämpfe der Schweiz nähere Kenntnis hatte? Die Ambivalenz dieses Bildes, das zugleich Hoffnung wie auch Bedrohung zum Ausdruck bringt, könnte ein Hinweis darauf sein. In meinen Augen verströmt es eine tiefe Melancholie des Ungewissen. Dix war Zeit seines Lebens an den Höhepunkten und Abgründen der Menschen interessiert. So sagte er einmal: «Ich habe gar kein Weltbild, das sich irgendwie definieren liesse. Ich weiss nur, dass ich nichts weiss und dass ich viel Chaos in mir habe. Geheimnisse soll man nicht aussprechen oder nur in Paradoxen.»
Dieses Paradoxe ist es, was mich berührt – gerade weil ich in diesem unversehrten Land lebe, das doch Teil einer Welt voller Tragik ist.
Der Kunsthistoriker Andreas Rüfenacht ist Kurator am Museum zu Allerheiligen Schaffhausen. Zu seinen Spezialgebieten gehören die Kunst des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Im Reformationsjahr 2017 war er Gastkurator am Kunsthaus Zürich und verantwortete die Ausstellung «Bilderwahl! Reformation».