Überschätzt – Unterschätzt

Hoffnung

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Mittwoch, 25. Januar 2023

Die Hoffnung, heisst es stets, stirbt zuletzt. Im Dreigestirn «Glaube – Liebe – Hoffnung» mag die Liebe zwar die «gröss­te unter ihnen» sein. Aber während man letztere immer mit Glut verbindet, ge­nügt bei der Hoffnung ein Funke, damit wir uns nicht aufgeben. Nicht umsonst steht bei Dante über dem Höllentor die Inschrift: «Lasst, die, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.» Das heisst im Umkehrschluss: Jedes Leben ohne Zuversicht ist die Hölle.

Ein Arzt berichtete mir von einem Erlebnis, das fast schon nach einem Gleichnis klingt. Mit seinem Team forscht er an einem neuen Krebsmittel, zwei bis dato unheilbar erkrankte Patienten stellten sich für eine Testreihe zur Verfügung. Im Vorgespräch wurde schnell deutlich, wie unterschiedlich die beiden Personen mit ihrer Situation umgingen. Die eine hielt von vorneherein jede Heilung für ausgeschlossen, haderte nur noch mit sich und der Welt. Obwohl die Erfolgsquote bei unter fünf Prozent lag, griff die andere Person euphorisch nach dem Strohhalm, als sei er die sicherste Planke zum rettenden Ufer. Nun fragte sich der Arzt: Bei welchem der beiden hat die Hoffnung mehr bewirkt? Und ihm wurde klar, dass der Patient, der sich schon selbst aufgegeben hatte, an diesem Medikamententest trotzdem teilnahm, obwohl doch angeblich alles keinen Sinn mehr machte. Das zeigte doch, dass die Hoffnung ihn nie verlassen hatte.

Selbst eine noch so trügerische Hoffnung kann lebenserhaltend wirken. Nirgendwo ist das besser nachzulesen als in Jurek Beckers Roman «Jacob der Lügner». In einem Konzentrationslager muntert Jacob seine Mithäftlinge auf, indem er behauptet, er sei im Besitz eines Radioapparates. Dort hätte er gehört, dass die Befreiung des Lagers unmittelbar bevorstünde. Jetzt hiesse es durchzuhalten. Die Hoffnung hat etwas ebenso Unverwüstliches wie die Blackbox in einem Flugzeug. Der Flugschreiber ist so stabil konstruiert, dass er jeden Aufprall unbeschadet übersteht und selbst in der Tiefsee noch weiter Daten sichert.

Der Advent ist die Zeit des Wartens auf die Geburt des Herrn. Erwartung bedeutet Hoffnung. Sie wählt nicht immer den direkten Weg. Die Ausgangssituation der Weihnachtsgeschichte gibt keinen Anlass zu Hoffnung. Die Heilige Familie ist auf der Flucht, Maria ist schwanger, in einem Viehstall finden sie eine Notunterkunft. Und ausgerechnet dort, am trost­losesten Ort, bringt sie ein Kind zur Welt, das zum Hoffnungsträger der Christenheit wird. Die Wege der Hoffnung sind unergründlich. Doch wer ihr vertraut, wird von ihr nicht verlassen.

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