Henning Burk drehte über hundert Dokumentarfilme, darunter zahlreiche über die Zeit des Nationalsozialismus. Eine sehr persönliche Auseinandersetzung aber schob er lange hinaus – die mit seiner Geburtsstadt Braunau. Hier kam Burk 1945 zur Welt, nur wenige Monate nach dem Ende Adolf Hitlers und nur wenige hundert Meter von dessen Geburtshaus entfernt. Erst nach dem Tod der Mutter, die über die Jahre der Hitlerherrschaft stets schwieg, machte sich Burk an die Aufarbeitung dieses schwierigen Erbes seiner Familiengeschichte. Entstanden ist eine Spurensuche, in der Burk Erinnerungen seiner Vorfahren mit historischen Recherchen und Befragungen vor Ort verwebt.
Es sind erstaunliche Geschichten, die Burk bei seinen Nachforschungen in Braunau zutage fördert. Da wäre zum Beispiel jene der Urgrossmutter des Autors, Rosalia Hörl, von der überliefert ist, dass sie jahrelang im Haus der Hitlers in der Salzburger Vorstadt 15 als Haushälterin arbeitete. Von ihr erfahren wir einiges über die Familie Hitler, etwa über den zum Jähzorn neigenden Vater Alois, der den Sohn Adolf angeblich mit einer Nilpferdpeitsche traktierte. Rosalia Hörl, die nach eigenen Aussagen auch die Hebamme des späteren Führers war, soll viele Jahre danach gesagt haben: «Wenn ich gewusst hätte, was aus dem kleinen Adolf mal wird, hätte ich ihm die Nabelschnur um den Hals gelegt.»
Burks Erkundungen in Braunau erfolgen im wesentlichen an drei Schauplätzen: dem Wohnhaus der Urgrossmutter Rosalia Hörl, dem Geburtshaus Adolf Hitlers im «Gasthaus zum Hirschen» und dem Haus des Grossvaters der Mutter väterlicherseits, Josef Schneider, der bis zu seinem Tod 1933 als Buchdrucker eines katholischen und antisemitischen Wochenblatts arbeitete. Die Familie Schneider erlangte in den Jahren zwischen den Weltkriegen Berühmtheit, als den beiden Söhnen Rudi und Willi nachgesagt wurde, sie verfügten über okkulte Kräfte und seien in der Lage, mit Verstorbenen in Kontakt zu treten. Ein regelrechter spiritualistischer Hype erfasste damals ganz Europa und zog selbst kritische Geister wie Thomas Mann in seinen Bann. Für Burk ist diese Geschichte ein Beleg für die irrational aufgeladene Stimmung jener Jahre, die schliesslich den Boden für Hitlers Aufstieg bereitete.
In Braunau erfährt Burk aber auch, was es mit dem Schweigen seiner Mutter über die Nazizeit auf sich hatte. Als Reichsangestellte des Führers schloss sie sich 1942 dem Ostfeldzug Hitlers an und diente in Weissrussland als Schreibkraft. Es war die Zeit unvorstellbar grausamer Säuberungsaktionen durch die Nazis. Dass die Mutter aufgrund ihrer Tätigkeit von diesen Verbrechen wusste, ist für Burk wahrscheinlich.
Burk legt mehr als eine Sammlung von historischen Ankedoten vor. Immer wieder kehrt er mit dem Leser in das gegenwärtige Braunau zurück. Auf der Stadt liege auch heute noch der lange Schatten Hitlers wie ein Fluch, notiert er. Mit Unbehagen registriert er, wie rechtsnationale Politiker die Spuren der Hitlerzeit am liebsten tilgen würden – nicht um mit der Vergangenheit ins reine zu kommen, sondern im Gegenteil, «um an diese wiederum unbeschwerter anknüpfen zu können».
Hitler, Braunau und ich ist ein nachdenkliches Buch über den Umgang mit Geschichte und über die Schwierigkeit, die eigene «Schuldlosigkeit» zu ertragen. Trotz einigen Wiederholungen und aus der Forschung bereits bekannten Fakten liest sich das Buch packend bis zum Schluss. Erfreulich ist zudem, dass Burk als Fragender an die Geschichte herantritt und auf vorschnelle Antworten verzichtet. Auch als «Spontan-Historiker», wie er sich nicht ohne Selbstironie nennt, bleibt er bis zuletzt Journalist: neugierig und mit kritischer Distanz zum Beschriebenen.
Henning Burk: Hitler, Braunau und ich. Westend, Frankfurt a.M. 2017; 320 Seiten; 28 Franken.
Heimito Nollé ist Redaktor bei bref.