Matter lebt. Seine raffinierten Lieder sind längst Teil der Deutschschweizer Identität. Schüler singen, Künstlerinnen covern und Akademiker analysieren sie. Zum 50. Todestag von Mani Matter begibt sich der Germanist Nicolas von Passavant auf die Suche nach dem Politischen in Matters Chansons. Herausgekommen ist ein Essay, der die Sprengkraft hinter den schönen Liedern aufdeckt.
Das Dynamit in den Liedern bemerken wir oft erst beim zweiten Hinhören. Denn der Jurist und Chansonnier Matter hielt wenig davon, seine Meinung mit dem «Holzhammer zum Ausdruck» zu bringen. Trotzdem sah er seine Lieder als «Modelle für politische Sachverhalte». Keine Zeile setzte er darum leichtfertig. «Sowohl meine private als auch meine berufliche Tätigkeit hat immer mit Politik zu tun», erklärte er einmal in einem Interview.
Als Quellen für die Spurensuche dienen von Passavant neben den Liedern Matters Interviews, Tagebucheinträge, ein Notizheft aus seiner Zeit in Cambridge sowie die unvollendete Habilitationsschrift. Dazu kommen drei politische Artikel, die Matter zu Lebzeiten veröffentlichte und die zusammen mit dem Essay neu abgedruckt werden. Der Essay selbst ist in drei Teile gegliedert. Während sich der erste Teil vor allem mit dem Motiv der Gewalt in Matters Liedern beschäftigt, widmet sich der zweite seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Im dritten Teil führt von Passavant die beiden Perspektiven zusammen.
Bereits mit Blick auf den ersten Teil resümiert der Autor: «Oft kommt es in Matters Chansons zu Handgreiflichkeiten und Beleidigungen, zu Mord und Totschlag sowie teils auch explizit politischer Gewalt.» Diese Tumulte fungieren als «Kristallisationspunkte komplexer Themen und Konflikte».
Wenn sich in den Liedern Reisende «yr isebahn» mit Schirmen «aufs dach» geben und sich brave Bürger «im löie z’nottsiwil» eine Schlacht mit Kartonschwertern liefern, hat das durchaus einen ernsten Hintergrund. Unüberhörbar ist das beim «dällebach kari». Matter besingt mit dem tragischen Selbstmord des Aussenseiters eine gesellschaftliche Schieflage. Gemeinsam ist den Liedern, dass sie die Probleme nicht nach einer einfachen Formel auflösen. Matter liefert keine Antworten. Er stellt Fragen.
Wie von Passavant im zweiten Teil zeigt, zieht sich das Motiv der Gewalt wie ein roter Faden auch durch Matters politische Arbeiten. Der Autor verknüpft Matters Texte mit den Unruhen der Nachkriegszeit. Vor diesem Hintergrund skizziere Matter die Idee eines pluralistischen Staates. Dieser habe «nicht bloss die Bevölkerung an politischen Entscheiden zu beteiligen, sondern – in sehr viel breiterer Perspektive – mit seinem ‹service public› die Voraussetzungen für die Beteiligung zu verbessern».
Von Passavant nennt als Beispiele Matters ein Diskriminierungsverbot oder das Frauenstimmrecht. Zentral war für Matter ausserdem eine Kultur des «Konsenses zur Uneinigkeit». Nur in «kontrovers geführten Debatten» könne sich die Gesellschaft über sich selbst verständigen.
Auf die Frage, wie man die Bevölkerung für solche Debatten fit macht, nennt von Passavant eine «immer aufs Neue zu leistende Vermittlungsarbeit». Eben diese leiste Matter mit seinen Liedern, erklärt der Autor im dritten Teil seines Essays. Matters staatstheoretische Überlegungen flammen in seinen Liedern überall auf, wie Passavant an Beispielen deutlich macht. Der «Värslischmied» inszeniert das jedoch so niederschwellig, dass jeder folgen kann. So erklärt von Passavant: «Die Qualität der Lieder besteht gerade darin, dass man die dortigen Diskurse nicht kennen muss, um die Chansons zu verstehen.»
Was die Verständlichkeit des Buches angeht, wäre zu wünschen gewesen, dass von Passavant etwas intensiver bei Matter in die Schule ginge. Besonders die staatstheoretischen Überlegungen im zweiten Teil sind nicht immer leichte Kost. Das schmälert den Beitrag des Essays aber keineswegs. Abgesehen von diesem kleinen Wermutstropfen ist das Buch eine klare Empfehlung für alle, die sich ein politisches Making-of von Matters Liedern wünschen.
Nicolas von Passavant: «Hemmungen und Dynamit. Über das Politische bei Mani Matter». Zytglogge, Bern 2022; 160 Seiten; 29 Franken.