Aus der Herzkammer

Heimat und saure Trauben

Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 15. November 2019

Mein Vater fliegt regelmässig nach Persien, um sich abwechselnd mit seinen Geschwistern um seine Mutter, meine liebe Oma Aghdas, zu kümmern.

Die fünf haben sich untereinander so organisiert, dass immer eine oder einer von ihnen bei ihr ist.

«Nach einer Woche zähle ich schon die Tage, bis ich wieder zurückfliegen kann nach Österreich. Ich halte dieses Land nicht mehr aus.»

Neulich kommt er wieder einmal von einem Persienaufenthalt zurück.

Er leert meinen Anteil der in Salz und Zitronensaft gerösteten persischen Pistazien aus einem grossen Sack in einen Frischhaltebeutel und drückt ihn mir in die Hand.

«Dieses Chaos in Tehrán. Dieser Verkehr. Diese Wurschtigkeit der Leute. Jedem ist alles wurscht. Nichts funktioniert. Jeden Trottel muss man bestechen, damit irgendwas passiert. Ich halte das nicht mehr aus. Die Leute haben ihren Charakter verloren. Das ganze Land ist verkommen. Die Menschen sind alle verkommen. Das ganze Land hat seinen Charakter verloren!»

Er öffnet die Dose mit dem Rob-e Nárenj (Sirup einer nordpersischen Zitrusfrucht, der zum Kochen von Spinateintöpfen und Fischen verwendet wird) und giesst mir einen Teil davon in ein Marmeladenglas.

Ich: «Warst du bei Afshin?»

«Gure pedaresh! (Der kann zur Hölle fahren!) Dein Grosscousin Afshin ist der grösste Trottel auf dieser Welt!

Er hat umgerechnet 6000 Euro geerbt. Und was macht er? Gibt seinem Sohn 4000 und seiner Tochter 2000.

Frag’ ich ihn, warum.

Sagt er: ‹Migand, pesar báyat do barábare ers bebare tá dokhtar (Sie sagen, der Sohn muss doppelt soviel erben wie die Tochter.)›

Frag’ ich ihn: ‹Ki mige? (Wer sagt das?)›

‹Mardom. (Die Leute.)›

‹Mardom kiand? (Was für Leute?)›

‹Khob, mardom dige. (Na, die Leute halt.)›

‹Khodet chi migi? (Und was sagst du selbst?)›

‹Hatman doroste. (Na, es wird schon stimmen.)›

‹E? Chun mardom migand, hatman doroste?(Ach so? Weil es die Leute sagen, wird es schon stimmen?)›

‹Áre. (Ja.)›

‹Mage heivuni ke fekr’háye khodet nemituni bokoni? (Bist du denn ein Tier, dass du dir keine eigenen Gedanken machen kannst?)›

Da starrt er mich nur blöd an.»

Mein Vater nimmt den Beutel mit den gefrornen Ghureh (unreife Weintrauben, die zum Ansäuern von Lamm- und Rindfleischgerichten verwendet werden) und einen Löffel und beginnt die gefrornen Weintrauben in zwei Plastikbehälter zu füllen, einen für meinen Bruder und einen für mich.

Ich: «Und weiter?»

«Ja, also er starrt mich nur blöd an, und dann sag ich: ‹Mazerat mikhám! Eshdeváh goftam! Heiván fargh be’ein-e bacháhásh nemikone! Heiván hame bacháháhrosho be hamun andáze dust dáre! (Verzeih! Ich muss mich korrigieren: Ein Tier macht keinen Unterschied zwischen seinen Kindern. Ein Tier liebt alle seine Kinder gleichermassen!) Yani aghle to be aghle heiván nemirese agar fekr mikoni ke pesaret arzeshesh do barábare dokhtaret ast! (Das heisst, dein Verstand reicht nicht einmal an den eines Tieres heran, wenn du denkst, dass dein Sohn doppelt so viel wert wie deine Tochter ist.)›»

  • N° 20/2019

    CHF6.00
    In den Warenkorb