Eine junge Touristin besuchte 1903 die US-Metropole New York. Als ein Fremder sie in einer Postkutsche belästigte, setzte sie sich mit einer Hutnadel zur Wehr. In der Folge entbrannte eine hitzige Debatte, wie die Genderforscherin Franziska Schutzbach in ihrem Vorwort zum Buch «Hast du Nein gesagt?» schildert: Hier diejenigen, die sich für das Recht der Frauen auf Selbstverteidigung einsetzten, dort diejenigen, welche die Männer in Gefahr sahen und die Länge von Hutnadeln regulieren wollten.
Schutzbach illustriert mit dieser Anekdote etwas, auf das die beiden Autorinnen Miriam Suter und Natalia Widla in ihrem Buch immer wieder zurückkommen – und das die Debatte um sexuelle Gewalt bis heute prägt: die Täter-Opfer-Umkehr, auch victim blaming genannt. Gemeint ist damit, dass Opfer zu wenig geschützt, ja manchmal sogar als Täterinnen dargestellt werden. Das kann so weit gehen, dass ihnen eine Mitschuld an der Gewalttat gegeben wird – etwa indem angedeutet wird, eine Frau habe einen zu kurzen Rock getragen.
Den beiden Autorinnen geht es darum aufzuzeigen, wie solche klischeehaften Vorstellungen den Umgang mit Opfern sexueller Gewalt beeinflussen. Dazu gliedern sie ihre Recherche in drei Bereiche: die Polizei, die Opferberatungsstellen sowie das Recht. Jeder Teil wird durch einen Erfahrungsbericht eingeleitet, in dem eine Frau teilweise sehr explizit einen erlebten Übergriff beschreibt. Darauf folgen Interviews mit Expertinnen sowie einige Hintergrundfakten.
Die Fragen an die Expertinnen lesen sich grösstenteils wie Rechercheinterviews. Das sind Gespräche, die Journalistinnen führen, um Hintergrundinformationen zu erhalten oder in ein Thema einzusteigen. Anschliessend werden die Aussagen in der Regel gefiltert und in eine lesbare Form gebracht. In Gänze abgedruckt werden Rechercheinterviews selten – zu gross ist der Beifang an kaum verwertbaren Informationen.
Hier liegt das grösste Manko dieses Buches: Es hätte ihm gutgetan, wenn die Autorinnen die zentralen Aussagen verdichtet und eingeordnet hätten. Die gewählte Form dagegen birgt nicht nur die Gefahr, dass Leserinnen – gerade wenn sie noch wenig über das Thema wissen – bei langfädigen Interviewpassagen aussteigen. Auch werden sie mit den Schlussfolgerungen teilweise alleine gelassen.
Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass das Buch über kein Fazit verfügt. Man wird den Eindruck nicht los, dass der Text möglichst schnell fertig werden sollte, rechtzeitig zur Debatte der eidgenössischen Räte. Diese verhandeln derzeit eine Revision des Sexualstrafrechts und wägen dabei verschiedene Konzepte gegeneinander ab. Ein zentraler Streitpunkt ist die Frage, ob für die Strafbarkeit die klare Zustimmung der Beteiligten massgebend sein soll oder nicht.
Dennoch leisten die Autorinnen wichtige Arbeit, da sie die Thematik ganzheitlich beleuchten. Die Erfahrungsberichte sind äusserst aufwühlend zu lesen – gerade weil die geschilderten Situationen teilweise so banal sind. Es sind Situationen, in denen eine Frau von einem Bekannten überrumpelt wurde, in denen eine Handlung noch einvernehmlich war und eine nächste dann nicht mehr. In denen Grenzen überschritten und verbale sowie nonverbale Signale ignoriert wurden. Und nicht zuletzt sind es Situationen, die vielen Leserinnen zumindest im Ansatz bekannt vorkommen dürften. Der psychopathische Täter im Park, der nachts aus dem Gebüsch springt und eine fremde Frau vergewaltigt? Er ist, glaubt man den im Buch zitierten Expertinnen, ein Mythos.
Erschütternd sind aber auch die Passagen, in denen Opfer erzählen, welche Erfahrungen sie mit Polizei und Staatsanwaltschaft gemacht haben – oder in denen (ehemalige) Polizistinnen gleich selber einen Blick in die teilweise sexistischen Umgangsformen der Korps gewähren. Das Fazit, das die befragten Polizistinnen laut Widla und Suter ziehen, lautet: «Würde ich vergewaltigt werden, würde ich keine Anzeige machen.» Ein Satz wie ein Klumpen im Magen. Er macht deutlich, wie viel Reformbedarf die Schweiz im Bereich sexuelle Gewalt noch hat.
Miriam Suter, Natalia Widla: «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt». Limmat, Zürich 2023; 176 Seiten; 20 Franken.