

Eugen Gomringer, Ideogramm «schweigen», Entstehungszeitraum 1953–1958. (Bild: Schweizerische Nationalbibliothek: Schweizerisches Literaturarchiv, Archiv Eugen Gomringer (SLA-EG-A-1-b-05)
Wir sehen 14-mal das Wort «schweigen», angeordnet in 5 Zeilen à 3 respektive 2 Setzungen. In der dritten Zeile klafft in der Mitte eine Lücke. In diesen Leerraum würde das Wort «schweigen» ebenfalls passen. Aber es steht hier nicht. Auch wenn wir es sofort gedanklich einfügen – um dann aber im nächsten Moment die Leerstelle augenfällig und überdeutlich als Leerstelle wahrzunehmen. Hier wird tatsächlich geschwiegen, hier ist es weiss, leer und still.
Dieses visuelle Gedicht vereint alle Ingredienzien der konkreten Poesie. Es ist ein Zusammenspiel von Text, Inhalt / Bedeutungsebene und Form: Alle Komponenten bilden eine Einheit, sie bedingen sich gegenseitig, um etwas mehr zu kreieren, als das Wort «schweigen» je ausdrücken könnte. Das Gedicht tut, wovon es erzählt, es wird zum Bild und zeigt das Schweigen.
Entworfen hat es in den frühen 1950er-Jahren der Begründer der konkreten Poesie, Eugen Gomringer. So wie sich die konkrete Poesie in Grenzbereichen der Literatur, Grafik und Kunst bewegt, so liest sich auch Gomringers Biografie grenzgängerisch: 1925 als Sohn einer bolivianischen Mutter und eines Schweizer Vaters in Bolivien geboren und in der Schweiz aufgewachsen, hat er Nationalökonomie und Kunstgeschichte studiert.
Mit seiner reduzierten, auf den Punkt gebrachten Text-Bildsprache fand er auch als Werbetexter Anerkennung. Für die Warenhauskette ABM schuf er etwa legendäre Plakate und Werbetexte. Nach 1960 arbeitete Gomringer, der vergangenen Januar seinen 100. Geburtstag feierte, an Max Bills Seite an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Später amtete er als Geschäftsführer des Schweizerischen Werkbundes in Zürich und wirkte an der Organisation der 4. documenta-Ausstellung 1968 in Kassel mit.
In unserer westlichen Kultur werden Worte / Texte immer zuerst, und bisweilen ausschliesslich, auf der inhaltlichen Bedeutungsebene wahrgenommen. Mich faszinieren Textarbeiten, die andere Massstäbe setzen, die sowohl den Raum um die Buchstaben als auch die Typografie stark gewichten. Die sich wie die konkrete Poesie dieser reinen Bedeutungsebene entziehen – ohne sie zu negieren –, indem sie sich zum Beispiel vom Blatt lösen und als Rauminstallationen den Betrachtenden gegenübertreten.
Ein klassischer Vertreter dieser Text-Kunst ist Lawrence Weiner, der seine prägnanten Kurztexte und Aufforderungen oftmals grossformatig direkt an Wänden oder Böden anbringt. Er verwendet meist Grossbuchstaben und ausgewählte, einfache Schablonenschriften: WE ARE SHIPS AT SEA, NOT DUCKS ON A POND. Dieser Satz springt einen sofort an, lässt einen für einen Moment innehalten. Vielleicht darüber nachdenken, wie er gemeint ist, wie wir ihn verstehen, als was wir uns verstehen – Schiff oder Ente, Meer oder Teich.
Mir persönlich hilft der Satz manchmal, wenn es darum geht, in den Stürmen des Lebens Haltung und Rückgrat zu zeigen.
Noch raumgreifender als Weiner arbeiten etwa die Künstlerinnen Barbara Kruger und Jenny Holzer. Ihr Interesse gilt dabei weniger der Poesie als der engagierten Anklage gesellschaftspolitischer Missstände und Kriegsverbrechen.
Im Vergleich zu diesen raumgreifenden Textinstallationen wirkt die konkrete Poesie – übrigens meist ganz in Kleinbuchstaben geschrieben – in ihrer physischen Erscheinung unauffällig. Sie entfesselt ihre Wirkung jedoch oftmals in inneren Räumen. Nicht selten zaubert sie den Betrachtenden ein Schmunzeln auf die Lippen. In diesem Sinne möchte ich hier mit einem bestechend schönen Satz (und Buchtitel) von Eugen Gomringer enden: Der einfache Weg ist einfach der Weg.