Der ehrliche Klappentext

«Gestrandete Riesen» von Gerd Wagner

Grandhotels sind bis heute Sehnsuchtsorte. In Gestrandete Riesen erzählt Gerd Wagner die Geschichte der Prunkbauten von ihren Glanzzeiten bis zu ihrem unausweichlichen Niedergang. Das Buch ist eine sinnliche Hommage an die Ära solcher Häuser und zugleich Studie eines Mikrokosmos, in dem der Schein das Sein übertrumpfte.
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Autorin: Gisela Feuz
Freitag, 05. Juli 2019

Reisen ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, wanderten doch schon seit Urzeiten Menschen durch Steppen, Wälder, Savannen und Wüsten. Waren es aber früher oftmals Sachzwänge – etwa die Suche nach Nahrung, fruchtbarem Land oder die Flucht vor Kriegen –, so etablierte sich ab dem 19. Jahrhundert eine neue Form der Migration: reisen, weil man es sich leisten konnte, und um der Entspannung willen.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert und mit dem Erstarken des Bürgertums gedieh auch der Tourismus. Dank Eisenbahn, Dampfschiff und aufkommendem Automobil wurde die Welt kleiner, und wer etwas auf sich hielt, der fuhr zur Erholung an einen Ort, der möglichst weit entfernt vom Dreck der industrialisierten Städte lag. Grandhotels sorgten dafür, dass auch an der Meeresküste oder an einem idyllischen Ort in den Bergen die Reisenden nicht auf die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens verzichten sollten.

Was den Adeligen früher der Hof gewesen sei, seien für das Bürgertum die Grandhotels gewesen, hält Gerd Wagner in seinem Buch Gestrandete Riesen fest. Darin gibt sich der Autor ganz der Faszination der Grandhotels hin und rekonstruiert anhand der Geschichte von sieben Prunkbauten den luxuriösen Mikrokosmos, in dem sich ihre Gäste getummelt haben müssen.

Da wäre zum Beispiel die fiktive exzentrische Lady ­Hebron, die zu Zeiten Queen Victorias zum ersten Mal aus der Provinz an die englische Ostküste reist, um dort einige Tage im Grand Hotel Scarborough abzusteigen. Dank Miss Hebrons Schilderungen taucht man ab in eine exklusive und mondäne Welt eines Grandhotels, das repräsentativ für ein britisches Empire steht, das imperialistische Überlegenheit demonstriert. Gleichzeitig zeichnet die Erzählung nach, welch strenge soziale Konventionen zwischen Mann und Frau herrschten und wie die rigiden Moralvorstellungen so manche Liebesanbandelung im Keim erstickten.

Oder da ist auch der junge Ezio, der aus einem sizilianischen Fischerstädten stammt. Mit Geld, das ihm ein väterlicher Freund hinterlässt, reist er nach Viareggio, steigt im Principe di Piemonte ab und gibt sich als deutscher Adeliger aus, obwohl er nur ein paar Brocken Deutsch spricht. Hier, also in dem Haus, in dem Könige, Politiker und Wirtschaftsführer zusammenkommen, hofft Ezio, die soziale Leiter hinaufklettern zu können. Das Schicksal macht dem jungen Hochstapler leider einen Strich durch die Rechnung.

Gerd Wagner lässt in seinem Buch den Charme von Lobbys, Ballsälen mit glattpoliertem Parkett, Salons mit dicken Vorhängen und Speisesälen mit opulenten Kronleuchtern auferstehen. In diesem Sinne ist sein Buch auch eine Hommage an eine vergangene Grandezza. Zudem bietet er soziologische Einblicke in eine Gesellschaftsschicht, die sehr viel Wert auf den schönen Schein legte, und spannt den Bogen zum Jetzt, indem er Menschen zu Wort kommen lässt, die derzeit in Grandhotels arbeiten.

Nebst dem britischen Riesen besuchte der Autor auch Grandhotels in Kanada, Frankreich, Belgien, Italien, Madeira und in der Schweiz. Anhand von Erzählungen, Betrachtungen, Reisetagebüchern, informativen Faktentexten und Gesprächen arbeitet Wagner den individuellen Charakter der Luxusbauten heraus. Dabei werden die Texte von Zeichnungen und Fotografien ergänzt. Dadurch, dass die Geschichten in unterschiedlichen Epochen angesiedelt sind, umgeht der Autor die Gefahr, in schwelgerischer Nostalgie zu verharren. Vielmehr liefert er eine umfassende Zeit- und Kulturgeschichte der Grandhotels von ihrer Sternstunde bis hin zu ihrem stetigen Niedergang. In diesem Sinne wirken die einstigen Luxusbauten wirklich wie gestrandete Riesen: aus der Zeit gefallene, zum Stillstand verdammte, in ihrer Eleganz verblasste Giganten. Und trotzdem umweht sie immer noch ein Lüftchen von Exklusivität und Verheissung.

Gerd Wagner: Gestrandete Riesen. Geschichten vom schönen Schein und von wirklicher Grösse alter Grandhotels. AT Verlag, Aarau 2019; 216 Seiten; 48 Franken.

  • N° 12/2019

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