Überschätzt – Unterschätzt

Gemeinde

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Mittwoch, 25. Januar 2023

Jesus bändigte bekanntlich Wind und Wasser, als er mit seinen Jüngern auf dem See Genezareth in einen schweren Sturm geriet. Auch deshalb ist das Sinnbild von der Gemeinde als Schiff nicht mehr aus der protestantischen Metaphorik wegzudenken. In einem der populärsten modernen Kirchenlieder, «Das Schiff, das sich Gemeinde nennt», fährt die Gemeinde auf dem Meer der Zeit. Ohne dass sich die Crew aufeinander verlassen kann und alle die ihnen zugedachten Aufgaben meistern, droht der Kahn zu kentern.

Sicher schliessen sich immer noch Menschen den christlichen Gemeinden an, um ihren Glauben zu teilen und zu stärken. Aber die Glaubenszugänge werden individualistischer, die Motive, sich in der Kirchgemeinde zu engagieren, sind eher von Hedonismus statt von Altruismus geleitet. Man geht in den Kirchenchor wie zum Yogakurs und ins Fitnessstudio. Die eigene Leistung wiegt mehr als das Gemeinschaftsbestreben: Wann sortiert der Chorleiter das brüchige Stimmchen der betagten Sängerin denn endlich aus, wo sie doch dem ehrgeizigen Projekt Weihnachtsoratorium gar nicht mehr gewachsen ist? Auch am Kuchentisch beim Kirchenkaffee ist hie und da der Wettbewerbsgedanke eingekehrt. Fast kümmerlich wirkt der einfache Sandkuchen neben der dreistöckigen Torte nach dem Rezept eines Meisterkonditors.

Vom gemeinsamen Brotbrechen in der urchristlichen Gemeinde zur Zuckerbäckerei heutiger Tage ist es ein langer Weg. Der Apostel Paulus verstand Gemeinschaft ganz in der antiken Tradition als paritätisches Zusammenwirken von Leib und Gliedern. Zum Wohle des funktionierenden Organismus erfüllen alle Teile des Körpers die ihnen zugedachte Funktion, kein Organ erhebt sich über das andere. Ein herrschaftsfreies Modell.

Wenn Paulus davon ausgeht, dass jeder Christ seine Geistesgabe in die Gemeinde miteinbringt, die er über die Taufe durch den Heiligen Geist erhalten hat, meint er damit nicht einen Talentwettbewerb in einer kirchlichen Castingshow. Gemeinde ist eben mehr als ein staatskirchenrechtlicher Begriff. Es ist auch kein abgestecktes Territorium, in dem die Kirche steht. In der dritten Strophe des oben genannten Liedes heisst es «Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, liegt oft im Hafen fest, weil sich’s in Sicherheit und Ruh bequemer leben lässt. Man sonnt sich gern im alten Glanz vergang’ner Herrlichkeit und ist doch heute für den Ruf zur Ausfahrt nicht bereit. Doch wer Gefahr und Leiden scheut, erlebt von Gott nicht viel. Nur wer das Wagnis auf sich nimmt, erreicht das grosse Ziel!» Paulus hätte das gefallen.

  • Gefangene des Konsums

    N° 9/2022

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