Es ist eine geballte Ladung von Drama, die Fleur Jaeggy zwischen die Deckel ihres schmalen Bändchens «Ich bin der Bruder von XX» packt. Die zwanzig Erzählungen, die meist nur wenige Seiten zählen, handeln von Mord, Suizid und von allerlei sonderbaren Existenzen, die auf vielfältigste Weise entgleist oder verzweifelt sind. Mitfühlende Einblicke in versehrte Seelen zu geben ist das Anliegen der Autorin nicht. In knappsten Worten skizziert sie die Vorgänge, die Stoff für Romane und Tragödien abgäben.
Das Strassenkind Hannelore zum Beispiel, das von einer Aristokratin aufgenommen wurde, sieht beim Wohnungsbrand bloss zu, wie ihre Wohltäterin stirbt. «Es wollte die Zerstörung dieser Frau, die ihm Gutes tat.» Warum? «Ohne Motiv.»
Es ist die Verbindung der schonungslosen Darstellung von Brutalität und Gefühlsarmut mit der Absage an den Versuch, menschliche Einstellungen plausibel zu machen, die Jaeggys Erzählungen auszeichnen.
Raffiniert setzt die Schriftstellerin meist eine Ich-Erzählerin ein, die in einem scheinbar naiven, unliterarischen Ton spricht und den Eindruck erweckt, man habe es mit einem Tatsachenbericht zu tun. Immer wieder ertappt man sich bei der Frage: Hat Fleur Jaeggy etwa tatsächlich dies oder jenes erlebt? Doch die Sprechenden entstammen den verschiedensten Hintergründen. Es ist eindeutig die Kunst der Erzählerin, diese unmittelbare Glaubwürdigkeit des Erzählens zu erzeugen – selbst in den unwahrscheinlichsten Geschichten.
Indessen tauchen in dem Band auch Schauplätze und Personen auf, mit denen die 1940 geborene Schweizer Schriftstellerin im Lauf ihres Lebens Bekanntschaft gemacht hatte. Tatsächlich verkehrte sie in Rom mit Ingeborg Bachmann, der wir hier im «aseptischen Zimmer» des Römer Spitals Sant’Eugenio begegnen. Auch das Porträt von Joseph Brodsky in Brooklyn dürfte Jaeggy, die mit dessen italienischem Verleger Roberto Calasso verheiratet war, nach dem Leben gezeichnet haben.
Und nicht zuletzt kannte sie auch die Gefühlskälte der Mitmenschen, die sie in ihren Geschichten so treffend beschreibt, aus ihrem eigenen Leben. Sie wuchs nicht bei ihren Eltern auf, sondern wurde schon als Kind zu Verwandten abgeschoben und verbrachte die Jugend in wechselnden Internaten und Klosterschulen.
Ein besonders vertracktes Spiel mit den Erzählinstanzen und Fiktionsebenen treibt Jaeggy in der Titelerzählung, dem längsten Text des Bandes: Der «Bruder von XX» beklagt sich als Ich-Erzähler darüber, von seiner Schwester als Material für ihr literarisches Schreiben missbraucht zu werden. Stets habe sie ihn belauert wie eine Spionin. Mit seiner literarischen Darstellung ist er überhaupt nicht einverstanden. Sie besuchte ihn etwa im Internat, aber hörte ihm nur halb zu. «Und sie schwadroniert und fabuliert über die verlassene Gegend, um von der Traurigkeit ihres Bruders berichten und einen poetischen Ort daraus machen zu können.»
Der Gipfel des literarischen Übergriffs besteht schliesslich darin, dass XX erzählt, der Bruder habe sich umgebracht. «Das verzeihe ich ihr nicht.» Wer sich in diesem Text, durch wessen Perspektive und mit welcher Plausibilität Gehör verschaffen will: Das wird als Rätsel aufgegeben.
Fleur Jaeggy ist im italienisch- und englischsprachigen Raum eine gefeierte Autorin. Im deutschen Sprachraum wurde sie dagegen wenig beachtet. Während nun die deutsche Übersetzung des Bandes «Ich bin der Bruder von XX» zehn Jahre nach dem italienischen Original erstmals erscheint, legt Suhrkamp zugleich mehrere frühere, längst vergriffene Werke Jaeggys wieder neu auf.
So steht der späten Entdeckung ihres Werks, die zudem durch die Verleihung des Gottfried-Keller-Preises 2024 Vorschub erhält, nun auch bei der deutschsprachigen Leserschaft nichts mehr im Weg.
Fleur Jaeggy: «Ich bin der Bruder von XX». Erzählungen. Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Suhrkamp, Berlin 2024; 114 Seiten; 33.90 Franken.