Aus der Herzkammer

Eine letzte Anekdote

Für seinen Abschied hat sich unser Kolumnist eine kleine Geschichte aufgespart, die ihm ganz besonders am Herzen liegt.
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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 09. Dezember 2022

Liebe Leserinnen und Leser des bref Magazins.

Nach ziemlich genau drei Jahren habe ich beschlossen, meine Kolumne zu einem Ende zu bringen. Dafür habe ich mir eine Anekdote ausgesucht, die mir ganz besonders am Herzen liegt. Ich finde, sie erzählt im Grunde alles, worüber ich schreibe.

Ja, die Menschheit ist entsetzlich! Ignorant. Brutal. Rück­sichtslos. Und dennoch finden wir in intimen Begegnungen immer wieder Menschen, die uns den Glauben in unsere Spezies wiederherstellen. Das ist so wesentlich, denke ich, und das ist es, was ich in meiner Kolumne veranschaulichen wollte.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen allen viel Kraft und Durchhaltevermögen in diesen widrigen Zeiten.

Ramin Nikzad

84jährige Akupunkturpatientin, das dritte jährliche Follow-up, während der Nadelung.

«… Na bitte, meine Mutter war ja auch eine Künstlerin, sie war Designerin, wie man heute sagen würde, für den Rosenthal, ein sehr angesehener und begehrter Mode­macher in Wien damals in den Dreissigern, müssen Sie wissen, Herr Doktor. Natürlich sagt Ihnen heute Rosenthal nichts mehr, er war ein Jude und die Nazis haben ihn und seine ganze Familie ermordet, es ist entsetzlich, und meine Mutter hat das zeitlebens nicht verwunden, glaub’ ich. Ich glaube, meine Mutter hat damals in den Vierzigern mit der Menschheit überhaupt abgeschlossen, völlig mit den Menschen an sich ab­geschlossen damals in den Vierzigern, wo sie miterlebt hat, wie die Wiener vor ihren Augen alle Juden beim Ro­senthal nach und nach, einen nach dem anderen und schliesslich den Rosenthal selbst und seine ganze Familie abgeführt haben und in diese ent­setz­lichen Lager gebracht haben, um sie dort alle zu erschiessen und zu verbrennen, was alle gewusst ha­­ben, hat mir meine Mutter immer gesagt: ‹Als sie den Grün­­baum und die Goldberg und schliesslich den Rosenthal und die Frau Rosenthal und die Rosent­hal-Kinder ab­geholt haben, hab’ ich gewusst, dass sie sie alle nach Auschwitz bringen, um sie dort alle zu erschies­sen und zu ver­brennen, wir haben das alle gewusst, das war kein Geheimnis, auch wenn jetzt alle so tun, als hätten sie von nichts gewusst …›, hat meine Mutter mir immer gesagt. Ich glaube, damals hat meine Mutter mit dieser Welt ab­geschlossen. Ich glaube, damals hat sie mit dieser Welt und mit dieser Mensch­heit irgendwie, wie soll ich Ihnen sagen, Herr Doktor, irgendwie hatte sie damals ein und für alle­mal innerlich abgeschlossen mit den Menschen, denke ich heute …»

15 Minuten später, während des Abnadelns.

«… Meine Mutter hatte damals beim Rosenthal viele männliche Kollegen, die Männer liebten, und das waren ihr die liebsten, müssen Sie wissen, Herr Doktor. ‹Die besten Männer sind die, die dich zum Essen und zum Tanz ausführen, weil sie mit dir essen und tanzen wollen und nicht mehr, weil sie sich für dich und nicht für deine Brüste interessieren …›, hat mir meine Mutter immer gesagt …»

Wir lachen beide.

«… Die meisten ihrer homosexuellen Kollegen wurden auch nach Auschwitz gebracht und ermordet. Aber bitte, ich finde, Herr Doktor, es ist ja heute um nichts besser, finden Sie nicht auch? Die Leute sind doch heute genauso dumm und widerlich wie damals, seien S’ mir nicht bös …»

  • N° 11+12/2022

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