Teheran, 1993. Ich bin mit meinem Vater bei der Familie. Wir sind auf dem Weg zu einem Abendessen bei der ältesten Schwester meiner Grossmutter.
Zu neunt in einem kleinen Toyota.
Ja, zu neunt. Das geht. Hinten vier Erwachsene sitzend und ein Kind (ich) auf den Erwachsenen liegend.
Vorne Fahrer, Beifahrer, ein Kind auf der Handbremse und ein Kind auf dem Schoss des Beifahrers.
Wir halten vor dem Haus meiner Grosstante und steigen nach und nach aus. Da steht plötzlich ein Pástárán vor uns und fordert uns auf, den Kofferraum zu öffnen und unsere Ausweise zu zeigen.
Pástárán sind die sogenannten «Sittenwächter», meist achtzehnjährige Burschen vom Land, denen eine Kalaschnikow umgehängt wird und die auf den Strassen Teherans spätpubertär ihrer Willkür freien Lauf lassen. Sie führen sich auf wie kleine Diktatoren. Drangsalieren feiernde Jugendliche, geschminkte Frauen, singende Männergruppen und machen nach Lust und Laune Razzien in den Wohnungen der Menschen, um nach Alkohol und anderen illegalen Dingen zu suchen. Sie haben dank ihrer Kalaschnikow vor nichts und niemandem Respekt.
Ausser vor älteren Menschen.
So persisch sind selbst sie, dass sie noch ein wenig Respekt und Hochachtung vor dem Alter haben.
Meine Oma Aghdas sieht den Burschen und gibt ihrer jüngeren Schwester einen Ruck mit dem Ellenbogen und flüstert: «Mach dein Theater!»
«Was für ein Theater?»
«Na, so wie letztes Mal!»
Die zwei steigen aus, meine Grosstante geht in die Knie und jammert: «Vái! Saram gij raft! Dáram mimiram! (Oi! Alles dreht sich! Ich sterbe!)»
Der Bursche schaut sie verängstigt und ratlos an.
Meine Oma schlägt sich auf die Brust und heult: «Mage dobáre ziádi ánsulán zadi, ahmaghe khar? Koshti mano! (Hast du dir denn schon wieder zu viel Insulin gespritzt, du blöde Kuh? Du bringst mich noch um!)»
Der Bursche ist jetzt ziemlich verängstigt und fragt meine Oma: «Cheshe? (Was fehlt ihr?)»
Meine Oma: «Sie ist unterzuckert! Sie braucht Zucker! Aghá, kháhesh mikonam, ejáze bedid, ke yek daghighe beram tu khuneye kháharam, áb nabát vássesh biáram! (Mein Herr, bitte erlauben Sie, dass ich kurz ins Haus meiner Schwester gehe und ihr ein Zuckerwasser hole!)»
Der Bursche nickt nervös.
Meine Oma schnappt mich am Arm und nimmt mich mit. Auf dem Weg zur Eingangstür flüstert sie mir ins Ohr: «Bache-ján. Harchi tu dastet dádim, fori beriz tu toilet, farmidi? (Mein liebes Kind, alles was wir dir jetzt geben, leerst du sofort ins Klo, hast du verstanden?)»
Ich nicke mit grossen Augen, und meine Oma küsst mich auf die Wange.
Wir betreten das Haus, der Mann meiner älteren Grosstante kommt ins Vorzimmer:
«Khosh umadid azizán … (Willkommen, meine Lieben …)»
Meine Oma: «… Vodkáro biár! Dame dar váissádand! (Hol den Wodka, sie stehen vor der Tür!)»
Mein Grossonkel erstarrt und reisst die Augen auf.
Oma: « Bodo dige! (Jetzt renn endlich!)»
Er läuft los und bringt einen Karton mit zwölf Flaschen. Meine Oma gibt ihm vier in die Hand: «Du geh zur Spüle in der Küche!» Er rennt los.
Sie gibt mir vier Flaschen in die Hand: «Du geh ins persische Klo! Ich nehm die restlichen vier und geh ins europäische Klo!»
Ich renn los ins persische Klo und schütte den Inhalt der vier Flaschen in das Loch im Boden.
Bei der Rückfahrt waren wir übrigens zu zehnt in dem kleinen Toyota. Der Fahrer hatte auch noch ein Kind auf dem Schoss.
Fad ist mir in Teheran nie geworden, das könnt ihr mir glauben.