Aus der Herzkammerbref+

Eine Kalaschnikow und ein Theater

Brenzlige Situationen in Teheran.
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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 14. Oktober 2022

Teheran, 1993. Ich bin mit meinem Vater bei der Familie. Wir sind auf dem Weg zu einem Abendessen bei der ältesten Schwester meiner Grossmutter.

Zu neunt in einem kleinen Toyota.

Ja, zu neunt. Das geht. Hinten vier Erwachsene sitzend und ein Kind (ich) auf den Erwachsenen liegend.

Vorne Fahrer, Beifahrer, ein Kind auf der Handbremse und ein Kind auf dem Schoss des Beifahrers.

Wir halten vor dem Haus meiner Grosstante und steigen nach und nach aus. Da steht plötzlich ein Pástárán vor uns und fordert uns auf, den Kofferraum zu öffnen und unsere Ausweise zu zeigen.

Pástárán sind die sogenannten «Sittenwächter», meist achtzehnjährige Burschen vom Land, denen eine Kalaschnikow umgehängt wird und die auf den Strassen Teherans spätpubertär ihrer Willkür freien Lauf lassen. Sie führen sich auf wie kleine Diktatoren. Drangsalieren feiernde Jugendliche, geschminkte Frauen, singende Männergruppen und machen nach Lust und Laune Razzien in den Wohnungen der Menschen, um nach Alkohol und anderen illegalen Dingen zu suchen. Sie haben dank ihrer Kalaschnikow vor nichts und niemandem Respekt.

Ausser vor älteren Menschen.

So persisch sind selbst sie, dass sie noch ein wenig Respekt und Hochachtung vor dem Alter haben.

Meine Oma Aghdas sieht den Burschen und gibt ihrer jüngeren Schwester einen Ruck mit dem Ellenbogen und flüstert: «Mach dein Theater!»

«Was für ein Theater?»

«Na, so wie letztes Mal!»

Die zwei steigen aus, meine Grosstante geht in die Knie und jammert: «Vái! Saram gij raft! Dáram mimiram! (Oi! Alles dreht sich! Ich sterbe!)»

Der Bursche schaut sie verängstigt und ratlos an.

Meine Oma schlägt sich auf die Brust und heult: «Mage dobáre ziádi ánsulán zadi, ahmaghe khar? Koshti mano! (Hast du dir denn schon wieder zu viel Insulin gespritzt, du blöde Kuh? Du bringst mich noch um!)»

Der Bursche ist jetzt ziemlich verängstigt und fragt meine Oma: «Cheshe? (Was fehlt ihr?)»

Meine Oma: «Sie ist unterzuckert! Sie braucht Zucker! Aghá, kháhesh mikonam, ejáze bedid, ke yek daghighe beram tu khuneye kháharam, áb nabát vássesh biáram! (Mein Herr, bitte erlauben Sie, dass ich kurz ins Haus meiner Schwester gehe und ihr ein Zuckerwasser hole!)»

Der Bursche nickt nervös.

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