Hochrot mit blutunterlaufenen Augen, wie ein Betrunkener – so beschreibt Biograf Andreas Guski in seinem Buch Dostojewskij den Dichter, wenn er am Spieltisch sitzt. «Fedj» sucht den Rausch des Risikos, die Spannung des Alles-oder-Nichts, den Schwindel «beim Rollen der Kugel und ihrem Stillstand». Dostojewski ist spielsüchtig, immer auf Achse, immer auf Pump. Roulettespiel sei für ihn «Gelderwerb ohne Gegenleistung». Gewinnen könne, wer über Kaltblütigkeit und Berechnung verfüge. Dostojewski hält das Glücksspiel wie jede andere Arbeit für lernbar. Guski wiederum sieht Gemeinsamkeiten zwischen dem Spiel und der literarischen Produktion Dostojewskis. Es ist die «Psychologie des russischen Roulettes, das Aufs-Spiel-Setzen des eigenen Ich». Dostojewski kann erst dann schreiben, wenn er alle seine finanziellen und seelischen Ressourcen erschöpft hat, wenn er die Tiefe des «Abgrunds durchmessen und seinen Triebstau abgebaut hat».
Der Slawist und Dostojewski-Kenner Guski legt die erste Biografie in deutscher Sprache seit über 25 Jahren vor und präsentiert Dostojewskis Werk vor dem Hintergrund seines Lebens: Der Literat ist psychologisch Spieler, politisch zunächst Revolutionär. Dann vollzieht er eine tiefgreifende Wandlung: Am 22. Dezember 1849 sollte Ingenieur-Leutnant Dostojewski gemäss dem Urteil des Militärgerichts zusammen mit anderen angeblich revolutionären Verschwörern erschossen werden. Dostojewski fasst eine weisse Kutte mit einer riesigen Kapuze. Er ist als sechster an der Reihe. Die ersten werden zu den Hinrichtungspfählen geführt, gefesselt. Trommelschläge, dann das Kommando: Legt an das Gewehr! Totenstille, die
Zeit dehnt sich. Das Feuer bleibt aus.
Die Begnadigung durch den gottgleichen Zaren verwandelt Dostojewski in einen ergebenen Nationalisten. Nie wieder begehrt er gegen die Krone auf. Im Schock des angekündigten Todes entwickelt er die «Religion des Leidens», die seine literarischen Werke fortan prägen soll, so Guskis These. Danach verschwindet Dostojewski für vier Jahre in der sibirischen Hölle der Lagerhaft und studiert dort Verbrechen. Die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus schildern die «Erziehungsdressur des modernen Justizvollzugs» und sind gleichzeitig eine «Soziologie der Haft». Prostitution, Alkoholorgien, Korruption, Diebstahl, Mord und Totschlag prägen den Lageralltag. Er bedeutet ausserdem den Verlust aller Privatheit. Der indiskrete Blick, das heimliche Beobachtetwerden spielen in Dostojewskis Werk eine zentrale Rolle. Viele Pionierleistungen Dostojewskis, etwa im Doppelgänger, werden erst im 20. Jahrhundert anerkannt: die Formexperimente der vielstimmigen Erzählung sowie die psychologische Feinzeichnung des verschüchterten Beamten und seines bedrohlichen Doppelgängers.
Dostojewski sei ein Autor der Krise, lautet der erste Satz dieser epochalen Biografie. Guski vernetzt darin Charakterstudie mit Zeit- und Literaturgeschichte. Dostojewskis Kampf um die Leser, seine Rolle im Feld der Macht, seine Stilisierung zum Propheten der russischen Nation, sein religiöser Eifer bei gleichzeitigem Hass auf Juden und Sozialisten – diese Eigenschaften befördern die unterschiedlichsten Formen von Vereinnahmung. So hielt Lenin den Dichter für «Mist», Maxim Gorki sprach vom «bösen Genie», die russische Emigrantenszene erklärte ihn in den dreissiger Jahren zum «Schutzheiligen». Im postsowjetischen Russland wird Dostojewski rehabilitiert. Ein Team der Universität von Petrosawodsk widmet sich einer kritischen Gesamtausgabe. Die Kommentare würden den Geist der Sowjetunion atmen, befindet Guski. Dem Moskauer Patriarchat hingegen gefällt’s: Der Editionsleiter wurde mit einem renommierten Orden ausgezeichnet. Dostojewski ist zurück und wird erneut politisch vereinnahmt.
Andreas Guski: Dostojewskij. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2018; 460 Seiten; 32 Franken.