Der ehrliche Klappentext

«Die Zukunft der Toten» von Sabine Haupt

In ihrem neuen Erzählband «Die Zukunft der Toten» schildert Sabine Haupt abgründig und mit schwarzem Humor Begegnungen mit dem Tod. Dabei führt sie die Leserin an überraschende Orte ­– wie zum Beispiel in das Haus eines Preppers.
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Autor: Markus Ganz
Freitag, 10. Februar 2023

Es ist einer dieser Buchtitel, die mit ihrer Widersprüchlichkeit faszinieren und sich so im Hirn festkrallen: «Die Zukunft der Toten» – was damit wohl gemeint ist? Man beginnt gespannt zu lesen, obwohl man denkt: Tote haben keine Zukunft, ihre Seelen vielleicht. So schwebt dieser Titel beim Lesen des Buches leise und doch hartnäckig über einem wie das Surren einer Drohne.

Im Klappentext steht, dass die Autorin von «realen und fantastischen Begegnungen mit dem Tod» erzähle. Tatsächlich leistet Sabine Haupt, geboren 1959 in Giessen und seit 1980 am Genfersee lebend, weit mehr. Die Professorin für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg bietet in ihrem dritten Erzählband ein breites Spektrum an vielschichtigen und unterschiedlich erzählten Geschichten.

In «Märchenstunde» beschreibt Haupt das Sterben eines Menschen aus zwei Perspektiven. Die Sterbende fragt sich, inmitten der Geräusche von knallenden Türen, der Anweisungen gebenden Ärztin und all der medizinischen Geräte: «Darf man nicht mal in Ruhe sterben? Wozu die Hektik?» Beschrieben wird aber auch die Unsicherheit der am Totenbett wartenden «Flüstergemeinde», die sich fragt, wie lange es wohl noch «gehe», dann: «Schscht! – leise, sie könnte dich hören».

Der Protagonist der Erzählung «Tote führen kei­ne Kriege» (wieder so ein Titel!) hingegen spürt auf dem Weg ins Büro plötzlich, wie sich eine unangenehme ­Weinerlichkeit in ihm breitmacht, weil alles so kompliziert sei. Und noch grundsätzlicher: «Wozu in Got­tes Namen hatte die Natur – denn nur sie konnte es ge­wesen sein – überhaupt so etwas Verworrenes wie den Tod ­erfunden?» Er weiss noch nicht, wie nahe er selbst dem Tod ist.

Bizarr ist die Erzählung «Der Fall SILVIA». Die Autorin verknüpft darin die Beschreibung von Tierversuchen im 19. Jahrhundert mit einer «Superintelligenz» in der Gegenwart, weil heute möglich sei, was sich die damaligen Wissenschaftler nur ausmalten. Da heisst es plötzlich: «‹Affenchor ON› Die Affen rasen durch die Cloud / Da hat sich manches angestaut / Die toten Affenhirne schrei’n: Mandelkern und Kokosnuss / Wir geben euch den Abschiedskuss. ‹OFF OFF›.»

Nicht alle Erzählungen drehen sich direkt um den Tod oder die Toten. Der Prepper etwa sagt in «Das Haus auf dem Hügel», Überleben sei «eine Frage der Logistik. Planung, Beschaffung, Lagerung, Distribution, Entsorgung». Der Aufwand, mit dem er in Erwartung des Weltuntergangs sein Überleben sichern will, wird so gross und dominant, dass er gar kein «richtiges» Leben mehr ­führen kann.

Die meisten Geschichten sind düster, «Bintje träumt» aber ist beklemmend. Darin wird das junge Opfer eines Sadisten selbst zur Täterin, weil: «Wer begreifen will, was in einem Sadisten vor sich geht, muss mit ihm verschmelzen». Eine Erzählung aber ist so berührend wie herzerfrischend, würde sich bestens als Weihnachtsgeschichte eignen. In «Samum. Von Wärme und Kälte und guten Träumen» geht es um einen Flüchtling, der in eine ihm völlig fremde Welt katapultiert wird. Er gibt sich hier unsichtbar, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Und wird dann doch – für ihn völlig unverständlich – reich beschenkt.

Was mit dem Buchtitel gemeint ist, erschliesst sich einem erst bei der gleichnamigen letzten von dreizehn Erzählungen, die in dieser aussergewöhnlichen Sammlung enthalten sind. Und tatsächlich: Die atmosphärische Geschichte löst die Spannung des Titels im Umfeld eines kubanischen Friedhofs auf.

Die fünfzehn eigenwilligen Illustrationen von Frank Lepold – meist geisterhafte Zeichnungen, Fotos und ­Fotomontagen – verstärken den oft abgründigen Cha­rakter der Erzählungen, aber auch ihren zuweilen schwarzen Humor. Tatsächlich ist die Lektüre trotz dem vorwiegend schweren Thema durchgehend anregend, oft sogar unterhaltsam.

Sabine Haupt: «Die Zukunft der Toten». 15 Illustrationen von Frank Lepold. Die Brotsuppe, Biel/Bienne 2022; 240 Seiten; 30 Franken.

  • N° 1/2023

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