Überschätzt – Unterschätzt

Die Stadt

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Freitag, 30. Juni 2023

Jesus war ein Landei. Seine Jüngerschaft bildete sich in der Provinz. Lange hatte er gezögert, nach Jerusalem zu gehen, und war entsprechend erschüttert, als die Bewohner in ihm nicht den kommenden König erkennen wollten. Seine Enttäuschung mündete in einer düsteren Prophezeiung, angelehnt an die Unheilspropheten von Amos bis Zefania, die der gottesfernen, lasterhaften Stadt ihren Untergang ankündigten.

Die Stadt gilt in der christlichen Erzählung als Sündenpfuhl, in der mindestens der sexuellen Ausschweifung, wenn nicht gar der Vielgötterei gefrönt wird. Eindringlich warnte der Landpfarrer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein jedes Mädchen, wenn es sich in die Stadt aufmachte. Und wenn sich die junge Frau dann zu einer emanzipierten, weltoffenen Person entwickelte, konnte das in den Augen der Dorfbevölkerung nur mit dem Teufel zugegangen sein.

Die Kirchen haben jahrhundertelang unterschätzt, welche geistigen und geistlichen Impulse von der Stadt ausgehen. Nicht nur wegen der Gelehrten, die sich dort einfanden. Dicht an dicht leben die mannigfaltigsten Kulturen im urbanen Raum miteinander, inspirieren sich gegenseitig mit neuen Ideen und diffundierenden Initiativen, ungeachtet vieler sozialer Reibungspunkte. In den letzten Jahren wurde in der Stadt zudem sehr produktiv mit neuen Gottesdienstund Seelsorgeformaten experimentiert, die den individuellen Bedürfnissen der Menschen gerecht werden wollen. Auch die diakonische Arbeit kann hier nicht genug gewürdigt werden. Dennoch wird das alte biblische Schäferstück immer noch aufgeführt, als wären keine 2000 Jahre vergangen. Da steht der gute Hirte in seiner Herde, um die die hungrigen Wölfe schleichen. Dieses Bild taugt nicht, um der religiösen Erwartung in der Stadt des 21. Jahrhunderts mit ihren komplexen Beziehungsgeflechten und ihrer Anonymität gerecht zu werden.

Gott hat es aufgegeben, zornige Untergangspropheten in die Stadt zu schicken. Sündenprediger wurden durch Streetworker ersetzt. Dass wir zur Strafe für den grössenwahnsinnigen Turmbau zu Babel in alle Winde zerstreut wurden, ficht uns heute nicht mehr an. Und auch die «babylonische Sprachverwirrung» schreckt uns in einem dermassen polyglotten Umfeld nicht mehr. Im digital vernetzten Zeitalter in einer globalisierten Welt wird die Kommunikation immer mehr verdichtet. Ach, und was «Sodom und Gomorrha» angeht – so heisst in Berlin-Mitte inzwischen eine beliebte Szene-Bar. Und bei den «12 Aposteln» gibt es gute italienische Pizzas.

  • Wo die Menschen vom Himmel fallen

    N° 5+6/2023

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