Aus der Herzkammer

Die Rutschpartie

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Autor: Ramin Nikzad
Freitag, 18. März 2022

6. Jänner 1992. Ich bin dreizehn Jahre alt und mit meinem Vater zu Besuch bei meinen Grosseltern Aghdas und Sádegh in Teheran.

Es ist der letzte Tag unseres 14tägigen Urlaubs, der Tag unseres Rückflugs.

Die ganze Nacht hat es stark geschneit in Teheran, und als ich morgens aufstehe, zum Fenster gehe und die Vorhänge aufziehe, schneit es immer noch.

Das Gebirge am Horizont ist in Schnee gehüllt. Die Teheraner Häuserlandschaft mit ihren Flachdächern ist weiss. Eilig schaufeln Männer die Schneeschichten in die Gassen hinunter.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer rieche ich den vertrauten Duft von Tee, frischem Fladenbrot, Orangenblütenmarmelade und Schafkäse, dem Frühstück meines Teheraner Grosselternhauses.

Ich küsse meine Grosseltern und meinen Vater.

«Guten Morgen, liebe Oma! Guten Morgen, lieber Opa! Guten Morgen, lieber Papa!»

Die drei sprechen über unseren Rückflug. Mein Vater hatte bei etlichen Taxiunternehmen angerufen, doch es war bei diesem Schnee kein Taxi zu kriegen für unsere Fahrt zum Flughafen. Es war völlig unklar, ob die Iran-Air-Maschine nach Wien überhaupt abheben würde.

Oma (zu meinem Vater): «Mein liebes Kind, hör doch ein einziges Mal auf deine Mutter, ich flehe dich an! Stornier den Flug, bleibt zwei Tage länger und fliegt dann zurück!»

Vater: «Nein! Ramins Schule beginnt morgen, er hat etliche Prüfungen diese Woche. Wir müssen heute fliegen!»

Ich: «So wichtig sind die Prüfungen nicht, Papa.»

Vater: «Dir sind sie vielleicht nicht wichtig, aber mir!»

Meine Oma murmelt etwas, schüttelt den Kopf, zieht ihren Mantel und ihr Kopftuch an und steigt das Treppenhaus hinauf. Auf dem Dach arbeitet Ezat, der Hausmeister, in dichtem Schneetreiben. Hastig schaufelt er die Schneemassen vom Dach.

Oma: «Ezat, sei so gut, sag deinem Sohn, er soll mit seinem Auto kommen und uns zum Flughafen bringen!»

Ezat: «Natürlich, gnädige Frau. Ich ruf’ ihn sofort an!»

Eine Stunde später kommt Ezats Sohn mit seinem Pick-up. Dieser hat zwei Beifahrersitze, auf denen meine Grosseltern Platz nehmen.

Mein Vater und ich setzen uns auf die Ladefläche.

Im Schritttempo fahren wir durch Teheran, der Schnee fällt unaufhörlich auf uns herab. Mein Vater beutelt ihn von meinem Mantel und meiner Haube, damit ich mich nicht erkälte.

Ich bin völlig sorgenfrei.

Ich geniesse das Abenteuer und beobachte die Strassen Teherans.

Die zehnspurigen Boulevards der Stadt haben sich in Neuschneepisten verwandelt, auf denen Autos und Mopeds torkelnd herumrutschen. Unentwegt driften da und dort die Flanken zweier Fahrzeuge aufeinander zu, krachen sanft aneinander, driften wieder auseinander und rutschen mit der anderen Autoseite in ein weiteres Fahrzeug rein.

Meine Geburtsstadt Teheran hatte damals rund 14 Millionen Einwohner, heute müssen es an die 20 Millionen sein. An jenem 6. Jänner 1992 betrachte ich im dichten Schneegestöber von der Pritsche aus diese 14 Millionen Teheraner, wie sie in Zeitlupe rutschen und taumeln, wie sie in einem Klangteppich aus Hupen, Flüchen und Gelächter durch ihre schneebedeckte Stadt driften.

Damals kicherte und gickste ich vor Vergnügen, ­heute denke ich: Deshalb lieben Kinder den Schnee so sehr. Weil er das Gewohnte plötzlich umfärbt. Weil er das Gewohnte plötzlich so rutschig und abenteuerlich macht.

Schliesslich erreichen wir nach Stunden den Flughafen Teheran Mehrabad und erfahren, dass der Flug zehn Stunden verspätet sein würde.

Mein Vater bittet seine Eltern, wieder zurück in die Stadt zu fahren, doch sie lassen sich nicht davon abbringen, mit uns am Flughafen zu warten. Heute denke ich: Wenn alle deine Kinder und Enkelkinder auf einem anderen Kontinent leben, dann zählt jede Stunde und jede Minute, in denen du sie anblicken kannst.

  • N° 2/2022

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