Die Seite wurde Ihrer Lesezeichenseite hinzugefügt. Klicken Sie auf das Menüsymbol, um alle Ihre Lesezeichen anzuzeigen. Die Seite wurde von Ihrer Lesezeichenseite entfernt.
Freitag, 10. November 2023
Übersetzung von Auszügen aus dem Artikel «Pfarrer Gertrud von Petzold» in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 27.7.1911.
Auf die Frage «Wie denken Sie über den weiblichen Pfarrer?» antworten noch viele im Sinne des Pauluswortes: «mulier taceat in ecclesia», obgleich die Echtheit dieses Satzes heute selbst von Theologen bezweifelt wird. Oder man zitiert Zwingli: «Das Gebiet der Frau ist das Haus, und Schweigen ist die höchste Zierde des Weibes sein ganzes Leben lang.»
Viele Leute denken:
«Pfarrer ist ein Beruf nur für Männer.
Frauen sollen diesen Beruf nicht ausüben.
Das hat schon Paulus gesagt.»
Paulus war ein Freund von Jesus.
In der Bibel sagt Paulus:
«Die Frauen sollen in der Gemeinde still sein.»
Heute wissen wir: Der Satz ist vielleicht gar nicht von Paulus.
Darum nennen die Leute auch Zwingli.
Zwingli hat vor 500 Jahren gelebt.
Er war ein wichtiger Reformator.
Das heisst: Er hat die Kirche neu gemacht.
Wegen Zwingli gibt es die reformierte Kirche in Zürich.
Zwingli hat gesagt:
«Die Frauen bleiben am besten zu Hause.
Sie sollen die ganze Zeit ruhig sein.
Das steht den Frauen besonders gut.»
Aber die modernen Zeitbedürfnisse verlangen anderes. Von der Arbeit der Frau auf allen sozialen Gebieten des Lebens lässt sich die Seelsorge an der Frau durch die Frau auf die Dauer nicht mehr trennen. Von Ärzten, Juristen und Theologen des In- und Auslandes ist schon oft zugegeben worden, dass in Armen- und Krankenhäusern, in Gefängnissen, in Erziehungs- und Fürsorgeanstalten unter Umständen die Frau eine sich in innern und äussern Konflikten quälende Frauenseele mit andern Mitteln zu verstehen und zu behandeln vermag als der Mann.
Heute leben wir in anderen Zeiten.
Die Frauen dürfen mehr mitreden.
Deshalb finden manche Leute: Frauen sollen auch als Pfarrerinnen arbeiten.
Dann können sie Seel-Sorge machen.
Seel-Sorge heisst: Für andere Menschen da sein.
Manchmal geht es Menschen schlecht.
Sie sind traurig.
Oder einsam.
Dann brauchen sie jemand zum Reden.
Seel-Sorge braucht es zum Beispiel im Kranken-Haus.
Oder in Gefängnissen.
Dort geht es den Menschen besonders schlecht.
Bis jetzt haben die Pfarrer die Seel-Sorge gemacht.
Aber die Pfarrer haben gemerkt:
Sie können vor allem mit Männern gut reden.
Mit Frauen ist das viel schwieriger.
Frauen haben komplizierte Probleme.
Das können nur Frauen verstehen.
Deshalb sollten Pfarrerinnen mit den Frauen reden.
Das haben sogar Wissenschaftler zugegeben.
Martha Zietz sagte einmal, es gebe wenig Geistliche, die der Versuchung widerstehen könnten, die Frau, die in Zeiten der Not ein grosses Bedürfnis hat, sich anzulehnen, von den ihr gegebenen Ratschlägen abhängig zu machen, und wenige, die ihr zur innern Selbständigkeit verhelfen würden. Sie sieht in der Zulassung der Frau zum Beruf des Pfarrers ein wichtiges Mittel, die christliche Kirche wieder volkstümlicher zu machen.
Auch Martha Zietz findet: Frauen sollen als Pfarrerin arbeiten dürfen.
Denn die Kirche soll für alle da sein.
Martha Zietz ist eine Schriftstellerin.
Sie kämpft für die Rechte von den Frauen.
Martha Zietz hat beobachtet:Pfarrer können den Frauen in der Seel-Sorge nicht helfen.
Männer und Frauen gehen verschieden mit Problemen um.
Männer lösen ihre Probleme meistens selbst.
Bei Frauen ist das anders.
Sie brauchen jemand zum Anlehnen.
Die Pfarrer helfen dabei gern.
Das ist ein gutes Gefühl für die Pfarrer.
Aber das hilft den Frauen nicht.
Die Frauen werden dabei nur abhängig.
Und müssen ihr Leben lang in die Seel-Sorge.
Deshalb fordert Martha Zietz:Frauen sollen selbständiger werden.
Und ihre Probleme aktiver lösen.
Dabei können Pfarrerinnen besser helfen.
Und da in absehbarer Zeit wohl auch die kantonale zürcherische Synode sich mit dieser Frage wird beschäftigen müssen, ist die Predigt Gertud von Petzolds am Sonntag in der Kreuzkirche in verschiedener Beziehung von Interesse gewesen. Fräulein von Petzold amtiert seit mehreren Jahren an einer deutschen Kirche in Birmingham. Die Kreuzkirche war im Schiff durchweg, auf den Emporen zum Teil gut besetzt. Schon rein äusserlich betrachtet, musste man zugeben, dass die schlanke Frau auf der Kanzel im kleidsamen schwarzen Talare, mit dem nicht puritanisch glatt, sondern modern, aber einfach frisierten Haar und dem sinnigen Antlitz, in Stimme und Gebärde die Würde des Amtes sehr gut vertrat. Auch theologisch entledigte sie sich ihrer Aufgabe in liberaler Richtung mit grossem Geschick.
In der reformierten Kirche im Kanton Zürich gibt es nur Pfarrer.
Frauen dürfen dort nicht als Pfarrerin arbeiten.
Das kann sich aber ändern.
Die Synode muss wahrscheinlich bald über das Thema reden.
Die Synode ist die Versammlung von der Kirche.
Deshalb war der Besuch von Gertrud von Petzold für die Kirche wichtig.
Gertrud von Petzold ist Pfarrerin in England.
Dort dürfen Frauen schon Pfarrerin sein.
Jetzt hat Gertrud von Petzold in der Kreuzkirche gepredigt.
Das ist eine reformierte Kirche in der Stadt Zürich.
Viele Besucher sind gekommen.
Die Kirche war fast voll.
Alle Besucher wollten wissen: Wie predigt eine Frau?
Für die Menschen in der Kirche ist wichtig: Ein Pfarrer muss selbstbewusst auftreten.
Die Leute sollen Respekt vor dem Pfarrer haben.
Die Besucher haben gemerkt: Gertrud von Petzold macht das auch sehr gut.
Die Pfarrerin ist eine schlanke Frau.
Mit einem klugen Gesicht.
Der schwarze Talar hat ihr gut gestanden.
Talar heisst das Kleid von den Pfarrern.
Die Pfarrerin hat ihr Haar modern getragen.
Aber nicht zu verrückt.
Gertrud von Petzold hat deutlich gesprochen.
Und sie ist sicher aufgetreten.
Sodass die Besucher Respekt haben konnten.
Gertrud von Petzold hat auch gut über die Bibel geredet.
Einige von ihren Ideen sind ziemlich modern.