Roboter, die wie Menschen denken und agieren, sind Stoff menschlicher Träume und Albträume. Künstliche Intelligenz, kurz KI, verheisst ganz neue Möglichkeiten im Bereich der Technik, des Verkehrs und der Gestaltung des Alltagslebens. Auf der anderen Seite macht KI Angst: Was, wenn die Maschinen die Menschen ausbooten und eines Tages die Macht übernehmen?
Dem Physiker und Experten für Digitalisierung Timo Daum ist die gegenwärtige Diskussion rund um künstliche Intelligenz zu aufgeregt. Er macht sich in seinem neuesten Buch für einen nüchternen Blick auf diese Entwicklungen im Bereich der Informatik stark. Dazu schlägt er als erstes vor, auf den Begriff der künstlichen Intelligenz zu verzichten. Dieser gaukle eine Form der Menschenähnlichkeit vor, die so nicht gegeben sei und die nach wie vor begrenzten Möglichkeiten der Informationstechnologie verschleiere. Daum möchte lieber objektiv beschreiben, was Programme konkret machen oder wie sie aufgebaut sind. So schlägt er vor, selbstlernende Programme einfach als «Software mit Trainingsdaten-Analyse» zu bezeichnen.
Folgerichtig lenkt er seinen Blick auf Bereiche, in denen KI tatsächlich zum Einsatz kommt. Für den an Marx geschulten Daum ist der springende Punkt, dass die umfangreichen Ressourcen, die in KI gesteckt werden, «in erster Linie dazu dienen, herauszufinden, was wir als nächstes kaufen werden». Der grösste Anteil an Rechenkapazität, die besten Leute und die am weitesten entwickelte Software werde verwendet, um die nächste Empfehlung auf Amazon zu generieren. Künstliche Intelligenz dient gemäss dem Experten vornehmlich dazu, das Konsumverhalten der Menschen zu erkennen und zu steuern. Einsätze von KI wie zum Beispiel jene im Bereich der Krebsforschung seien dagegen vernachlässigbar.
Über weite Teile des Buches bietet Daum aber vor allem einen Überblick über die gegenwärtigen Entwicklungen der künstlichen Intelligenz. Er schildert etwa, wie Gewerkschaften versuchen, die Robotisierung beim Unternehmen Volkswagen zu verhindern, während Arbeiterinnen von VW 100 000 Euro Abfindung bezahlt wird, wenn sie ihren Vertrag freiwillig kündigen. Daum beschreibt aber auch, wie China eine Überwachung der wirklich beängstigenden Art entwickelt: So sollen in einer einzigen staatlich kontrollierten Datenbank Steuerdaten, Verkehrsdelikte, Social-Media-Aktivitäten oder nachbarschaftliches Verhalten aller Bürgerinnen zusammenfliessen. Eine KI soll daraus einen Wert für jeden einzelnen Einwohner berechnen.
Die künstliche Intelligenz des Kapitals ist Daums zweite Veröffentlichung zur digitalen Ökonomie. Leider bleibt er darin hinter seinem Debüt Das Kapital sind wir zurück. In diesem entwickelte er seine fundamentale These, dass sich der Kapitalismus mit der Digitalisierung erneuert habe. Die Erwartung mancher Expertinnen und Aktivisten, dass mit der digitalen Revolution der Kapitalismus ins Wanken gerate, habe sich nicht bewahrheitet. Die Digitalisierung habe dem Kapitalismus stattdessen neuen Schub verliehen und neue Möglichkeiten eröffnet. Daum nennt etwa, wie Nutzerinnen von Facebook mit dem Schreiben von Posts, Likes und Kommentaren quasi zu unbezahlten Arbeiterinnen werden. Denn erst sie erschaffen das Produkt Facebook, das den Werbeunternehmen dann verkauft werden kann. Eine solch ausgereifte Argumentation sucht man im Nachfolgebuch vergeblich.
Die Lektüre ist trotzdem anregend. Daum übt Kritik, ohne in eine Technikfeindlichkeit abzugleiten. Dabei versucht er, über die üblichen Forderungen – wie zum Beispiel jene nach einem Ende der Überwachung – hinauszugehen. Statt mehr Privatsphäre fordert der Autor die Umwandlung der Daten in Commons, also Gemeingut. Aus «meine Daten gehören mir» soll so ein «unsere Daten gehören uns» werden. Hier bleibt die Frage, welchen Nutzen die von Facebook gesammelten Daten für die Allgemeinheit wirklich haben können.
Timo Daum: Die künstliche Intelligenz des Kapitals. Edition Nautilus, Hamburg 2019; 192 Seiten; zirka 20 Franken.