
Jeder Mensch hat seine Schrullen. Meine besteht darin, dass ich in Buchläden gezielt nach Werken suche, die ausser mir bestimmt keiner kauft.
«Mal wieder zwei Raritäten gefunden», lobte mich neulich der Verkäufer.
«Sind das schon Raritäten?», fragte ich mit gespielter Überraschung.
«Naja, sowas liest heute keiner mehr», meinte er. Ausser ich, dachte ich stolz. «Aber das macht nichts», fuhr er fort. «Es erscheinen ja jeden Tag so viele neue spannende Bücher.»
Seltsamerweise verletzte mich diese Bemerkung. Es kam mir vor, als müsste ich die Bücher gegen diese spannende Armada verteidigen. Doch da war noch etwas anderes. Irgendwie hatte der Kerl es geschafft, die Bücher, ihre Verfasser und damit auch ihre Leser zu entwerten. In meinen Augen bestand ihre Qualität gerade darin, dass sie nur von ein paar wenigen Feingeistern – beispielsweise von mir – gelesen wurden.
Unser Match war für eine intime Ewigkeit bestimmt, während der eine Handvoll Auserwählter am Lagerfeuer sass. Und nun erzählte mir der Buchhändler, dass täglich neue Werke erschienen, die genauso gut, ja vielleicht sogar besser seien. Was ich für ein Meisterwerk hielt, war in seinen Augen wie ein Gericht, das aus der Mode geraten war: «Mah Meh? Isst heute keiner mehr».
Natürlich weiss ich, dass die Zeit viel selektiver ist als jedes Qualitätsurteil. Meisterwerke verschwinden. Und andauernd entstehen neue. Hauptsache, wir werden gut unterhalten. Dennoch störte mich etwas an dem Gedanken. Ich musste an Lukas Bärfuss denken, genauer an den phantastischen Dokumentarfilm, den Laurin Merz über ihn gedreht hat.
Bärfuss erzählt darin von seinem Vater, der im Gefängnis gesessen hat und am Ende obdachlos gestorben ist. Man hätte kaum ein unbedeutenderes Leben führen können, meint Bärfuss, aber eigentlich gelte das für die meisten Menschen. Wenn sie tot sind, vergehen ein paar Jahre und schon erinnert sich keiner mehr daran, dass sie überhaupt einmal gelebt haben. «Das ist doch furchtbar!», ruft Bärfuss und man spürt, dass er es wirklich so meint. Indem er schreibe, versuche er dem unbarmherzigen Verlöschen etwas entgegenzusetzen.
Gute Idee. Doch es kommt der Tag, da ein Feingeist mit wissender Miene eine Buchhandlung betritt und ein verstaubtes Büchlein ans Tageslicht befördert. Bärfuss, steht darauf geschrieben. Und der Verkäufer ruft höhnisch: «Den liest doch kein Mensch mehr!»
Warum ist es überhaupt wichtig, dass man nicht vergessen wird? Weshalb trauern wir dem Vergessen nach? Ich glaube, man muss zwischen zwei Arten von Trauer unterscheiden. Da wäre zum einen die ganz und gar narzisstische Trauer über das eigene Verschwinden: Wäre es nicht ein Verlust für die Menschheit, wenn sie gar nichts von mir wüsste?
Als Reaktion darauf versuchen wir Bleibendes zu schaffen. Menschen wie meinem Onkel Jurek genügt dafür ein Büchlein mit dem Titel «Die Geschichte des Bügeleisens» (im Selbstverlag, mit zahlreichen Abbildungen. Es hat noch Restposten). Andere wollen gleich das Antlitz der Welt verändern, auch wenn sie sie dafür in Schutt und Asche legen müssen.
Die andere Trauer ist jene, die mich manchmal befällt, wenn ich auf dem Friedhof zwischen all den Gräbern mit fremden Toten umhergehe. Wer waren sie? Auch sie haben einmal gelebt, gelacht, geweint und gehofft. Sie hatten ihre Vorlieben und Schrullen. Sie haben Vorräte angelegt und Dinge gesammelt. Wo ist das alles hin? Ins Brockenhaus. Aber wo sind die Besitzer?
Natürlich hat es auch etwas Befreiendes, dass unser Leben nicht mehr wiegt als ein Blatt Papier. Ausserdem macht es Sinn, dass wir irgendwann das Feld räumen, um Platz für die Lebenden zu schaffen. Die Erfindung des Himmels war eine logistische Meisterleistung. Und doch überkommt mich eine seltsame Traurigkeit, wenn ich an all diesen Toten vorbeikomme. Sie haben einmal gelebt. Jetzt sind sie nur noch Bücher, die keiner mehr liest. Ist das nicht furchtbar?